Leseprobe
[zunächst das komplette Vorwort, allerdings ohne Fußnoten.
Beispieltexte aus den Kinderbüchern folgen als Datei im pdf-Format]
Lütte und Wer will unter die Indianer.
Zwei Kinderbücher von Erich Kästners Freundin Herti
Kirchner.
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Stefan Neuhaus und Mareike
Weber.
(Archiv zum Erich Kästner Jahrbuch, Band 1)
(Reprint der Kinderbücher mit den Zeichnungen der Originalausgabe,
broschiert, DIN A 5 beschnitten, 348 S.)
Eitorf: gata 2002. |
Inhalt
Volker Ladenthin:
Editorial zum ARCHIV ZUM ERICH KÄSTNER JAHRBUCH 5
Stefan Neuhaus und Mareike Weber:
Schatten der Vergangenheit.
Herti Kirchners Kinderbücher
und ihre Bezüge zu Erich Kästner 7
Herti Kirchner:
Lütte. Geschichte einer Kinderfreundschaft
(1937, Reprint) 39
Herti Kirchner:
Wer will unter die Indianer?
(1938, Reprint) 183
[aus technischen Gründen zunächst ohne Wiedergabe der Fußnoten]
Schatten der Vergangenheit.
Herti Kirchners Kinderbücher und ihre Bezüge zu Erich Kästner
Erich Kästner und Herti Kirchner
'Kästner und die Frauen' ist ein in der Forschung und im Feuilleton
unerschöpftes, wohl auch unerschöpfliches Thema. Kästners
intensive Mutterbindung hat immer wieder dazu geführt, daß man
ihm einen Ödipuskomplex zuschrieb und das Scheitern seiner zahlreichen
Beziehungen daraus erklärte. Nicht zu leugnen ist, daß Kästner
das war, was man landläufig als Frauenheld bezeichnet. Allerdings gab
es offenbar keine Frau, die im Unfrieden von ihm geschieden wäre. Kästner
war ein höflicher und rücksichtsvoller Mensch. In den zwei letzten
Lebensjahrzehnten machte ihm genau dies zu schaffen. Er versuchte, seinen
beiden wichtigsten Beziehungen: Luiselotte Enderle - mit der er zusammenlebte
- und Friedhilde (genannt Friedel) Siebert - mit der er ein Kind hatte,
seinen späteren Erben Thomas Kästner - gleichermaßen
gerecht zu werden. Das ging nicht gut, beide Frauen beanspruchten ihn für
sich. Kästner flüchtete sich in Lügen, Enderle setzte sogar
einen Privatdetektiv auf ihn an.1
Retrospektiv scheint es in der Tat so, als sei Kästner bindungsunfähig
gewesen. Man kann dies bezweifeln. Eine mögliche Erklärung wäre,
daß zwei Liebesbeziehungen, in die Kästner viel hineingelegt hatte,
jäh beendet wurden. Das eine Mal ging - wie in seinem berühmten
Gedicht Sachliche Romanze beschrieben - die Liebe "verloren wie ein
Stock oder Hut". Nach rund sieben Jahren trennte er sich 1926 von seiner
ersten großen Liebe Ilse Julius.2 Das zweite Mal starb die Frau, die
er dem Hörensagen nach (zugegebenermaßen eine unzuverlässige
Quelle)3 sogar heiraten wollte. Hierfür ist etwas weiter auszuholen.
1933/34 lernte Erich Kästner Herti Kirchner kennen. Der Komponist
Edmund Nick soll "Kästner im 'Grünen Zweig' mit dessen nachmaliger
Freundin, der Schauspielerin Herti Kirchner, bekannt" gemacht haben.4 Kästners
frühere Freundin Cara Gyl, ebenfalls eine Schauspielerin, die mit bürgerlichem
Namen Käthe Hörnemann hieß,5 war damals zur Beobachtung
in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert worden, die genauen Hintergründe
sind unklar. Görtz/Sarkowicz schreiben: "Obwohl er zu dieser Zeit schon
mit der Schauspielerin Herti Kirchner liiert war, kümmerte er sich
rührend um Cara Gyl. Er fuhr nach Frankfurt, wo sie behandelt wurde,
und begleitete sie nach Mainz. Dort hatte ihr Stück Die Tournee am
28. August 1934 Premiere."6 Kästner schrieb von 1933-45 an verschiedenen
Theaterstücken mit, die Freunde unter Pseudonym als die ihren ausgaben,
die genaue Zahl ist nicht festlegbar, da Zeugnisse fehlen. Es ist durchaus
wahrscheinlich, daß er auch an der Tournee nicht unschuldig war.7
Herti Kirchner war zwanzig Jahre alt, als Kästner sie kennenlernte,
und sie "arbeitete intensiv an ihrer Filmkarriere", "war bereits eine
- zumindest in Berlin - bekannte Schauspielerin".8
"Am 2. Januar 1933 wurde der erste Film mit Herta Kirchner aufgeführt,
Kampf um Blond; er lief auch unter dem Titel Mädchen, die spurlos verschwinden.
Die knapp Zwanzigjährige spielte eine Schülerin, die dem Erziehungsheim
entflieht, sich in Berlin als Tänzerin verdingt und in einen Kriminalfall
verwickelt wird. Sie war Kästners 'Nauke', und ihr Verhältnis
zu Kästner dauerte bis zu ihrem frühen Tod an, mal enger, mal
lockerer, aber doch sieben Jahre lang. Kirchner war auch mit Heinz Rühmann
befreundet, neben dem sie im Florentiner Hut (1939) spielte; von einer Tournee
aus fragte sie Kästner, ob sie nach Berlin kommen oder mit Rühmann
einen Abstecher an die Nordsee machen solle. 'Ich hab ihr zur Nordsee geraten.
Hoffentlich folgt sie gut.' (27.7.1934, M[uttchen-]B[riefe]9) Kästner
stellte sie seiner Mutter als 'nettes, frisches Mädel' vor: 'Die späten
Abendstunden vertreib ich mir mit einer blonden 20jährigen Schauspielerin,
die mich seit dem 15. Jahre liest und liebt.' (1.12.1933, MB) Er mußte
auch diesmal seine Mutter beruhigen - die 'kleine Schauspielerin' sei
ein 'süßes Mädel und, toi toi toi! gesund.' (4.12.1933, MB)
Später nannte sie sich Herti Kirchner. Ihrer ersten Hauptrolle folgten
Theaterarbeiten und einige kleinere Filmrollen, dann spielte sie in Luis
Trenkers Liebesbriefe aus dem Engadin (1938) und in Wolfgang Liebeneiners
Der Florentiner Hut (1939). Die Premiere ihres letzten Films Wer küßt
Madeleine? (1939) erlebte sie nicht mehr."10
Herti Kirchner verunglückte "[...] tödlich mit dem Auto. Wie
Kästner auf ihren Tod reagierte, ist nicht überliefert. Briefe
aus dieser Zeit haben sich nicht erhalten."11 Zwar klingen die Zitate
- auch Kästners Eigenzitate an seine Mutter - so, als sei Herti
Kirchner nur eine unter vielen gewesen. Doch kann man hier auch einem Fehlschluß
erliegen. Zunächst ist das besondere Medium 'Muttchen-Brief' zu beachten.
Kästner mußte seine Briefe so verfassen, daß sie bei zwei
Autoritäten nicht zu Verstimmungen führten, beim NS-Staat, der
vermutlich Kästners Korrespondenz überwachte, und bei seiner Mutter,
für die er, wie er sehr wohl wußte, die wichtigste Bezugsperson
war. Die Vermutung liegt nahe, daß es im Interesse von Herti Kirchners
Karriere und im Interesse der mütterlichen Zufriedenheit lag, die Beziehung
herunterzuspielen.
Über den Einfluß der jungen Schauspielerin auf Kästners
Produktion kann man nur spekulieren, aber es läßt sich vermuten,
daß die weibliche Hauptfigur von Der kleine Grenzverkehr zumindest teilweise
ihre Züge trägt. Während seines Aufenthaltes in Salzburg lernte
"Kästner zwar keine 'Konstanze' kennen wie sein Protagonist im Roman
[...], aber er traf Herti Kirchner".12 Umgekehrt wird der Fall interessanter.
Der mit Publikations-, teilweise auch mit Schreibverbot innerhalb Deutschlands
belegte Kästner suchte nach 1933 auf sehr kreative Weise nach Möglichkeiten,
eigene Arbeiten zu publizieren oder mit Freunden gemeinsam etwas zu machen.
Dies war schon aus finanziellen Gründen notwendig. Da Kästner
über dieses Kapitel seines Lebens und Werks den Mantel des Schweigens
gedeckt hat, ist es aus heutiger Sicht schwer, seinen Anteil an einzelnen
Produktionen genau zu ermitteln. Es steht aber mittlerweile fest, daß
er an 'Robert Neuners' (Pseudonym von Werner Buhre) Das lebenslängliche
Kind und an einigen Theaterstücken 'Eberhard Foersters' (Pseudonym
von Eberhard Keindorff) mitgeschrieben hat. Im Falle des von 'Hans Brühl'
(Pseudonym für Martin Kessel) veröffentlichten Theaterstücks
Willkommen in Mergenthal konnte sogar anhand eines Privatbriefes festgestellt
werden, daß Kästner das Stück geschrieben hatte und Kessel
es lediglich als das seine ausgab. Im Analogieschluß ist es zumindest
denkbar, daß Kästners Mitarbeit an Theaterstücken unter Pseudonym
umfangreicher war, als dies heute belegt ist. So könnte von Stil und
Inhalt her das erwähnte Stück Cara Gyls, Die Tournee, durchaus
auch von Kästner stammen.13
Ebenso wie Kästners Theaterschaffen im Dritten Reich noch längst
nicht vollständig erforscht ist, birgt seine Arbeit für den Film
noch viele Geheimnisse. Angesichts dieses vielseitigen Schaffens des sich
geschickt tarnenden verbotenen Autors mag es fast verwunderlich erscheinen,
daß Kästner auf dem Gebiete des Kinderbuches während der
gesamten NS-Zeit, abgesehen von zwei Publikationen im Zürcher Exilverlag
Atrium (Emil und die drei Zwillinge 1935, Till Eulenspiegel 1938), nichts,
vor allem nichts für die deutschen Leser, veröffentlicht haben soll
(in die NS-Zeit fällt sonst nur noch die Idee und erste Vorarbeit zum
Doppelten Lottchen).
Auffällig ist, daß nach Cara Gyl Kästners nächste
Freundin Herti Kirchner das Schreiben anfing, diesmal waren es zwei Kinderbücher.
Wie bei Cara Gyl verhielt sich Kästner auch Herti Kirchner gegenüber
wie ein fürsorglicher, ja manchmal fast väterlicher Freund,14 nahm
intensiv Anteil an der Publikation und an der Entstehung ihrer Bücher.
Kästners Verlag Williams & Co. wurde auch der Verlag Herti Kirchners,
und es liegt nahe zu vermuten, daß Kästner diesen Kontakt hergestellt
hat. Am 16. April 1937 berichtet Kästner seiner Mutter von den erfolgreichen
ersten Verhandlungen: "Naukes [so Kästners Spitzname für Herti
Kirchner] erstes Buch wird wahrscheinlich von Williams & Co. angenommen
werden. Der Verlag ist sehr interessiert daran. Das wäre ja schön.
Die Kleene ist ganz stolz darüber."15 Auch das zweite, 1938 erschienene
Kinderbuch von Herti Kirchner findet in einem Muttchen-Brief Erwähnung:
"Naukes Buch hat allen Kindern, die es über Weihnachten lasen, gut gefallen."16
Hanuschek vermutet, daß die Beziehung Kästner-Kirchner "schon
lockerer" war, als Kirchner zu Tode kam. Die von Hanuschek zitierte briefliche
Notiz an die Sekretärin macht andererseits deutlich, daß Kästner
von der Todesnachricht sehr angegriffen wurde:
"Herti ist tot. Autounfall 1. Mai früh 5h. Ich wurde 1/2 7h geweckt
u ins Achenbach-Krkhs zitiert. Bekam sie nicht mehr zu sehen. War sofort tot
gewesen; Gehirnblutung. Bin seitdem nicht sehr auf dem Posten. [...] Telefonisch
zu mir nur gute Freunde oder Hein oder Hertis Bruder &tc. durchlassen.
Will versuchen, etwas zu schlafen."17
Der Beginn von Kästners Beziehung zu Luiselotte Enderle, die er schon
aus Leipzig kannte, schließt sich unmittelbar an.18 Bekanntlich blieb
er bis zu seinem Tod - trotz zahlreicher Affären und der langjährigen
Bindung an Friedel Siebert - mit ihr zusammen. Es ist zumindest möglich,
daß Herti Kirchners Tod auf die überraschende Dauerhaftigkeit
dieser Beziehung einigen Einfluß hatte.
Kirchners Filme und Kinderbücher
Über die Filme und Kinderbücher Herti Kirchners ist in der Spezialliteratur
kaum etwas zu ermitteln, über den Lebensweg der Kästner-Freundin
nicht viel mehr als ihr Geburtsdatum (3. Sept. 1913) und ihr Todestag (22.
April 1939). In den meisten Nachschlagewerken zur Filmgeschichte der NS-Zeit
wird die damals recht bekannte Schauspielerin nicht einmal erwähnt.
Eine Ausnahme bildet Drewniak, der im Zusammenhang mit Kirchners letztem Film
Wer küßt Madeleine? immerhin schreibt: "Ernst Waldow und Herti
Kirchner (zum letzten Mal erschien die verunglückte Schauspielerin hier
auf der Leinwand) waren das zweite Liebespaar."19 Im Personenregister finden
sich jedoch nur folgende Angaben: "Kirchner, Herti (1913-1939), deutsche
Schauspielerin"20.
Laut Görtz/Sarkowicz gelang Herti Kirchner 1935 in einem Propagandafilm
der Durchbruch als Filmschauspielerin, sie konnte sich fortan ihre Rollen
aussuchen und spielte bevorzugt in Komödien mit.21 Der bekannteste ihrer
Filme ist Der Florentiner Hut mit Heinz Rühmann. Zum Florentiner Hut
heißt es bei Hull: "The former actor Wolfgang Liebeneiner directed a
charming remake of The Italian Straw Hat under the title Der Florentiner Hut
(The Florentine Hat), (April 4), with Heinz Rühmann as the harassed bridegroom."22
Courtade/Cadars wissen es einerseits besser, andererseits unterläuft
ihnen ein Fehler: "Zwölf Jahre nach dem französischen Regisseur
René Clair verfilmte Wolfgang Liebeneiner 1939 das Theaterstück
'Der Florentiner Hut' von Labiche. Wie bei Clair spielt auch bei ihm Olga
Tschechowa die Hauptrolle."23 Die Hauptrolle spielte nicht Tschechowa, sondern
Herti Kirchner, die in den beiden zitierten, grundlegenden Studien zum Film
von 1933-45 an keiner Stelle erwähnt wird. Auch nicht, wenn es um Liebesbriefe
aus dem Engadin von 1938 geht:
"[...] 'eine fröhliche, humorvolle und sportliche Geschichte'. Sie
endet 'mit einem Clou, den sich nur ein so virtuoser Skifahrer wie Luis Trenker
erlauben konnte. Läßt er sich doch auf Skiern von einem in vollem
Tempo fahrenden Zug abschleppen!' (,Alliance-Magazine', Juli 1939). Trenker
verkörperte auch in diesem Film den 'Typus eines Mannes, mit dem ein
auf Kriege bedachtes Regime zuverlässig rechnen konnte' (Kracauer)."24
",Wer küßt Madeleine?' (mit Magda Schneider)" wird nur kurz
als Beispiel für Komödien "minderer Qualität" erwähnt.25
Zwei weitere Filme mit Herti Kirchner, die in der "Internet Movie Database"
aufgeführt sind, scheinen den Filmhistorikern gänzlich unbekannt
oder zu unwichtig zu sein: Der Film Acht Mädels in einem Boot von Erich
Waschneck aus dem Jahre 1932 und ein Film von Hans Hinrich mit dem Titel Fracht
von Baltimore, der 1938 in die deutschen Kinos kam.26
Noch weniger als über die Filme Herti Kirchners läßt sich
über ihre Kinderbücher in Erfahrung bringen, denn wenn sie als
Filmschauspielerin heute weitgehend unbekannt ist, so ist sie als Autorin
gänzlich in Vergessenheit geraten. Die Erstausgaben der beiden hier
neu veröffentlichten Kinderbücher sind zwar in mehreren Publikationsverzeichnissen
wie zum Beispiel imGesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums27aufgeführt,
aber sie haben keine Neuauflagen erlebt, sind in der Geschichte der Kinder-
und Jugendliteratur untergegangen und heute anscheinend nur noch in wenigen
Exemplaren erhalten.28 Über die Rezeption von Kirchners beiden Kinderbüchern
konnten keine Informationen ermittelt werden, was nicht heißt, daß
es keine gibt. Nur dürften sie sich in Jahrgängen zeitgenössischer
Zeitungen und Zeitschriften gleichsam verstecken und nur unter großem
Aufwand oder mit viel Glück aufzufinden sein. Der Verlag jedenfalls
hat keine entsprechenden Unterlagen mehr. Man kann vermuten, daß die
Rezeption sich in Grenzen hielt, schließlich findet sich Kirchners Name
in keinem der benutzten Literaturlexika und Nachschlagewerke.
Wie sich zeigen wird, handelt es sich entgegen der offenbar geringen Rezeption
um durchaus moderne und zeitkritische Kinderbücher, auch dies ein Grund
für eine nähere Betrachtung. Diese kleine Edition steht also auf
zwei Füßen, dem der vermeintlichen Modernität und der Vermutung,
wie bei den Theaterstücken könne Kästner Co-Autor oder Autor
gewesen sein. Letztere wird gestützt durch einen Leserbrief in der
Süddeutschen Zeitung zu einem Artikel von Thomas Anz und Stefan Neuhaus.29
Dieser Brief war der Auslöser zu den Nachforschungen, die zu der vorliegenden
Publikation führten:
"Kästners verheimlichte Liebe
In den vielen Beiträgen über Erich Kästner ist mir aufgefallen,
daß eine sehr wichtige Station in seinem (Berliner) Leben ausgelassen
worden ist: Es gab eine bildhübsche junge Schauspielerin namens Herti
Kirchner. Sie wurde Kästners große Liebe, und wieder einmal verließ
er sein Lottchen. Eingeweihte sprachen sogar davon, daß Kästner
sie heiraten wollte. Das spielte zu jener großdeutschen Zeit, da er
Schreibverbot hatte. Plötzlich erschienen, ziemlich nacheinander, zwei
Kinderbücher, in der Diktion Kästners, aber als Autorin figurierte
Herti Kirchner. Damals war allen klar, wer der Autor war. Die arme Kirchner
verunglückte wenig später mit ihrem Auto tödlich."
Marion Schweitzer, München (SZ Nr. 55 vom 8.3.1999, S. 9).
Eine spannende Frage ist natürlich, inwieweit man der Behauptung,
Kästner sei der Autor gewesen, Glauben schenken kann. Wir kontaktierten
Frau Schweitzer, die erklärte, daß ihre Schwester seinerzeit
Kästner auf Partys getroffen habe und daß das, was in dem Leserbrief
stehe, offene Geheimnisse der entsprechenden Zirkel gewesen seien.30 Dieser
Weg führt also ebensowenig zum Ziel der Bestätigung wie der Verwerfung
der vermuteten Autorschaft (kann und sollte man Gerüchten glauben?).
Ähnlich verhält es sich, wenn man die anderen Informationen des
Leserbriefs auf ihren Wahrheitsgehalt hin befragt. Offizielle Lesart ist
zwar, daß Kästner Luiselotte Enderle ("Lottchen") erst später
lieben lernte, allerdings kannte er sie bereits seit 1926/2731 und es ist
keineswegs auszuschließen, daß die beiden bereits vor dem Datum
Sommer 1940, das die Biographen nennen,32 zeitweise miteinander liiert waren.
Es bleiben viele Fragen, zu denen sich in der Forschung keine weiteren
Aufschlüsse finden lassen. Lediglich der Kontext, in dem Kirchners
Filme und Kinderbücher zu betrachten sind, ist einigermaßen erforscht.
Unterhaltung wurde im Nationalsozialismus groß geschrieben und stellte
neben Texten, Filmen oder Bühnenstücken mit ideologisch indoktrinierender
Absicht die zweite Säule der Kulturpolitik dar. Den Bürgern sollte
ein positives Lebensgefühl vermittelt werden. Dies wurde im Laufe des
Krieges zunehmend wichtiger, da so das Durchhaltevermögen und die Opferbereitschaft
der Bevölkerung gestärkt werden konnten. Außerdem war es
in unterhaltsamen Werken möglich, das Menschenbild des Nationalsozialismus
in Grundzügen mitzutransportieren, vom traditionellen Rollenmuster
(beispielsweise die Frau als Mutter und Heimchen am Herd) bis zu einem allgemeinen
Gefühl der Zusammengehörigkeit und Geborgenheit. Bei der Bewertung
von Texten oder Filmen aus der Zeit stellt sich also immer die Frage, inwieweit
sie durch Unterhaltsamkeit und Inhalte im Sinne des Nationalsozialismus wirken
konnten oder ob ihnen ein, im Rahmen der Möglichkeiten, kritischer Subtext
eingeschrieben war. Diese Diskussion, die auch für die Gegenwart Bedeutung
hat, in der zahlreiche Filmkomödien wie die Feuerzangenbowle ohne Kommentar
zu den Entstehungsbedingungen gezeigt werden,33 hat sich an Kästners
Drehbuch zum aufwendigen Münchhausen-Film von 1943 in aller Schärfe
entfaltet. Eine Analyse der Kinderbücher Kästners und der Filme
unter Pseudonym hat ergeben, daß man auch hier, wie beim Münchhausen,
zu der Auffassung gelangen kann, daß es einen kritischen Subtext gibt.34
An die beiden Kinderbücher Herti Kirchners sind also zwei Fragen zu
richten:
1. Sind die Kinderbücher NS-konform oder liegen sie quer zur Zeit?
2. Weisen sie kästnertypische Züge auf, mit anderen Worten: könnte
Kästner daran mitgeschrieben haben? Damit ist nicht der Anspruch verbunden,
etwas 'beweisen' zu wollen. Rechtlich ist die Situation eindeutig: Herti
Kirchner gilt als Urheberin.35
Die beiden Kinderbücher im Kontext der NS-Literatur
Der Anspruch der Nationalsozialisten, alle Bereiche des öffentlichen
und privaten Lebens mit ihrer Ideologie durchdringen zu wollen, machte auch
vor der Jugend nicht halt, eher im Gegenteil. Die Erziehung der Kinder und
Jugendlichen zu NS-treuen Volksgenossen wurde mit der Hitlerjugend und anderen
Organisationen paramilitärisch durchorganisiert. Auch in der Jugendliteratur
sollte die ideologische Ausrichtung dokumentiert werden. Das bedeutete:
Verbote für mißliebige Autoren und Bücher, Förderung
von ideologisch einwandfreier Jugendliteratur. Erich Kästner, dessen
Name bereits bei der Bücherverbrennung voller Abscheu genannt worden
war, galt den NS-Ideologen als besonders verwerfliches Subjekt. Nur vor
dem Verbot von Emil und die Detektive schreckten sie zurück, das Kinderbuch
war zu populär.
Wie sollte die 'neue' Jugendliteratur aussehen? "Man wollte [...] nicht
aufklären, sondern begeistern, nicht den Verstand ansprechen, sondern
den blind ergebenen Gehorsam vor Augen stellen", faßt Peter Aley in
seiner gründliche Studie zur NS-Jugendliteratur zusammen.36 Dafür
liefert er zahlreiche Belege. Max Fehring, Vorsitzender des größten
Fachverbandes für Jugendfragen, stellte bereits 1933 fest:
"An zwei Aufgaben wird die Jugendschrift zu ihrem Teil mitarbeiten, an
der politischen und an der völkischen Bildung. [...]
1. Die politische Jugendschrift.
Sie will das Ich durch Erlebnis und Erkenntnis hineinführen in die
Gemeinschaften [...]. Sie pflegt Einordnung und Unterordnung, Opferwille und
Hingabe aus dem Ethos der völkischen Gemeinschaft, will den Nachwuchs
zur Gliedschaft erziehen in den völkischen Lebensordnungen. [...]
2. Die völkische Jugendschrift.
Sie will das Ich in der Begegnung mit dem artensprossenden Volksgut heranreifen
lassen zu völkischem Glauben, Denken, Fühlen und Wollen, wie es
sich in dem reichen Erbgut der Vergangenheit erhalten hat und wie es in
neuem volksgebundenen Schaffen entstehen wird."37
Entsprechend sollen Heldenfiguren konzipiert werden, die "in Wechselbeziehung
zur 'Gefolgschaft' oder zu den Widerständen stehen. [...] immer handelt
es sich um die Persönlichkeit, den Einsatz von Willen, Leib und Leben
für eine große Sache [...]." Soweit Josef Prestel in seinen Ausführungen
über Volkhafte Dichtung, ein Aufsatz von 1935.38 Das "Abenteuerbuch"
galt als "Vorstufe zum Heldenbuch". Ein Wilhelm Müller beschrieb 1939,
was darunter nicht verstanden werden sollte: "Die echte Abenteuererzählung,
wie wir sie in der Jugendbücherei führen, braucht, um spannungserfüllt
zu sein, keine Detektive mit der unvermeidlichen Pfeife im Mund, keine kriminellen
Verbrecher und Halunken [...]."39 Dabei wurden, in unserem Kontext besonders
interessant, "die Indianergeschichten" einer "grundsätzlichen Kritik"
unterzogen. NS-Autor Will Vesper sprach sich aus rassistischen Gründen
gegen sie aus:
"Schluß machen müssen wir mit aller weichlichen literarischen
Farbigenschwärmerei [...]. Wir sind ein weißes Volk. Wir sind das
Kern- und Hauptvolk der weißen Rasse. Die weiße Rasse ist in
Gefahr. [...] Und so wollen wir der farbigen Gefahr, die für unser Volk
zunächst und hauptsächlich eine seelische Gefahr ist, mit aller
Schärfe dort begegnen, wo sie uns bedroht, in der Farbigenschwärmerei
der europamüden Literatur."40
Selbst Erhard Wittek, unter dem Pseudonym Fritz Steuben Erfolgsautor der
"Tecumseh"-Indianerromane, bestätigte dieses rassistische Urteil, nur
daß es für ihn nicht bedeutete, keine Indianerromane schreiben
zu können. "Nach seiner Ansicht führte das Fehlen der unabdingbaren
volklichen Bindungen zum tragischen Unterlegensein der heldenhaft kämpfenden
Indianer [...]." Wittek erläuterte: "[...] was mich an dem Thema ergriff,
war der erschütternde Kampf eines edlen Volkes um seine Heimaterde,
der heldenhafte Widerstand gegen die übermäßig herandringende
Flut der Weißen und die Vergeblichkeit dieses Ringens. [...] eine Rasse
waren die Indianer - aber kein Volk."41
Vor diesem Hintergrund muß es bereits als ungewöhnlich und gewagt
erscheinen, daß Herti Kirchner ihrem zweiten Kinderbuch das Indianerspiel
einer Gruppe von Kindern zugrunde legt. Daß Lütte sich nicht
nur als Indianerhäuptling verkleidet, sondern einmal auch in die Rolle
des "Kapellmeisters einer rasenden Nigger-Jazz"42 (eine Wortwahl, die erst
aus späterer Sicht irritiert) schlüpft, muß ebenso verwundern,
denn wie die Indianer waren Schwarze, ihre Kultur und ihre Musik im Nationalsozialismus
verpönt.
Ungewöhnlich ist auch Kirchners Figurenzeichnung und -konstellation.
In ihren ebenso wie in Kästners Kinderbüchern spielen, ganz im
Gegensatz zur herrschenden NS-Doktrin, unverwechselbare Individuen die Hauptrollen.
Zwar bilden sich Kinderkollektive, doch stehen sie entweder quer zur NS-Ideologie
oder sie können als Keimzelle der NS-Bewegung verstanden und als Kritik
am Konformismus und an der Inhumanität des NS-Staates gelesen werden.
In der Bande der fünf Bumke-Söhne übernimmt der älteste
der Brüder die Rolle des herrischen Diktators, zu dem die anderen mit
einer Mischung aus Ehrfurcht und Neid aufblicken. Der Älteste hat,
wie es bei Kirchner sogar wörtlich heißt, die "Führerstellung"43,
erteilt Befehle und setzt die anderen unter Druck. Dabei wird die Machtausübung
und Gewalt gegenüber Schwächeren und Wehrlosen, durch die auch
die Nationalsozialisten ihre Herrschaft stärkten, am Beispiel des despotischen
Lukas kritisiert: "Tyrannisch und roh, wie er Kleineren gegenüber war,
war er im Grunde ein großer Feigling."44 Interessant ist auch, daß
die Bumke-Söhne mit "Ratten"45 verglichen werden - eine Rolle,
die nationalsozialistische Propagandafilme den Juden zuwiesen.
Lüttes Indianerbande ist ein Gegenentwurf zu dieser Bruderclique und
damit zur nationalsozialistischen Gesellschaft: eine solidarische Gemeinschaft,
in der auf demokratische Weise gemeinsam Entschlüsse gefaßt werden
und in der Schwache und Hilfsbedürftige von der Gemeinschaft gestützt
und getragen werden. Die Verehrung der Kinder für ihren 'Häuptling'
ergibt sich teilweise daraus und ist teilweise ironisierend gemeint, denn
der 'Kriegsgesang' der Kinder "wir leb'n und sterben für Junges Gras"46
wirkt wie eine Parodie auf den nationalsozialistischen Führereid. Diese
Parodie und der Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Doktrin sind um
so wirksamer, da im Falle der Indianerbande ein Mädchen als 'Führer'
fungiert, dem sich Jungen freiwillig unterordnen. Sowohl bei Kästner
als auch bei Kirchner wird Mädchen eine Rolle zugeschrieben, die ungewöhnlich
für die Zeit und als Kritik lesbar ist. Kästner konzipierte bereits
im NS-Staat sein späteres Erfolgsbuch Das doppelte Lottchen, in dem
es zwei Mädchen vorbehalten ist, ihre Überlegenheit gegenüber
den Erwachsenen zu beweisen. Herti Kirchner portraitiert mit ihrer Protagonistin
eine ganz und gar untypische Mädchenfigur: Lütte ist ungestüm
und unternehmungslustig und spielt lieber Fußball als mit ihren Puppen.
Indem sie sich von der "treue[n], aber reinliche[n] Squaw"47 zum Indianerhäuptling
wandelt, hebt sie sich deutlich von dem nationalsozialistischen Frauenbild
ab.
Schon in dem ersten Lütte-Band (Wer will unter die Indianer? kann
als Fortsetzung gelesen werden, die Hauptfigur ist dieselbe) fällt
auf, daß die konventionellen Rollenverteilungen nur scheinbar aufrechterhalten
werden. Zwar begrüßt Kalli seinen Großvater mit einem "strammen
Diener"48 und Ib schlägt "krachend die Hacken zusammen",49 als Lüttes
Vater das Zimmer betritt. Bei näherem Hinsehen aber haben die Frauen
die Hosen an. Bei Kalli führt die Großmutter das Regiment. Männer
wie Herr Junck oder Ohle Bart werden als gutmütig und friedliebend beschrieben,
während die weiblichen Figuren wie Ohle Barts Frau oder Fräulein
Sorge als zänkisch und gebieterisch geschildert werden. Auf jeden Fall
werden herrische und herrschsüchtige Menschen, seien es nun das hinterlistige
Kinderfräulein ("Sie würde schon zu herrschen wissen!"50) oder
der halbstarke Lukas Bumke, sehr negativ gezeichnet. Daneben wird in scheinbar
unwesentlichen Details die Heldenverehrung der Nationalsozialisten kritisiert,
wenn Kalli zum Beispiel ein "Denkmal mit einer prächtigen Männerfigur"51
mit Erbsen beschießt.
Ein Konflikt, der viele Menschen im Dritten Reich belastete und den auch
Kästner später immer wieder thematisiert hat, war die Entscheidung
zwischen Pflichtbewußtsein und erzwungenem Gehorsam auf der einen Seite
und dem eigenen Gewissen auf der anderen. Herti Kirchner thematisiert diesen
Konflikt in einer Episode ihres ersten Kinderbuches, in der sich außerdem
deutliche Anspielungen auf die NS-Rassenideologie finden, nur daß
es hier vordergründig nicht um Menschen geht, sondern um Tiere. Zwischen
die "rassereinen Bruteier"52 auf Junckes Hühnerhof war ein "Mischling"53
geraten, ein weißer Hahn unter lauter schwarzen Hühnern (es ist
bemerkenswert, daß hier weiß die Farbe des Außenseiters
ist). Zwar wird das weiße Tier von den anderen nicht ausgestoßen,
sondern setzt sich erfolgreich durch, aber als es für Fräulein
Sorges Suppentopf gestohlen werden soll, könnte man in dem beschriebenen
Verhalten der Hühner durchaus eine Kritik am Verhalten von Menschen
in ähnlichen Situationen entdecken: "Die anderen Hühner gackerten
erregt durcheinander, doch als ihnen selber nichts geschah, beruhigten sie
sich augenblicklich."54 Daß ein Mensch in so einer Situation jedoch
immer eine Entscheidung zwischen einem Befehl von oben und der inneren Stimme
seines Gewissens treffen kann, zeigt Kirchner am Beispiel Seppel Totenkopps,
der zwar als Lehrling eigentlich "parieren"55 muß, sich aber dann doch
dafür entscheidet, den Hahn heimlich in Sicherheit zu bringen. Wenn
Herr Junck seine Tochter am Ende ermahnt: "Man kann nicht nur Dummheiten
machen, man muß auch gehorchen lernen",56 so ist dies kein Aufruf zu
blindem Gehorsam, sondern stimmt vielmehr mit Kästners in Pünktchen
und Anton geäußerter Überzeugung "Respekt ist nötig,
und Respektspersonen sind nötig, solange die Kinder, und wir Menschen
überhaupt, unvollkommen sind"57 überein. Daß diese Respektspersonen
bei Kästner und Kirchner keine forschen, angsteinflößenden
Führerfiguren sind, sondern liebenswürdige Menschen und integre
Vorbilder, macht beider Bücher zu Ausnahmeerscheinungen in der Kinderliteratur
ihrer Zeit.
Kirchners Geschichten wirken auf den ersten Blick erstaunlich zeitlos und
leben wie Kästners Werke vor allem von der Vermittlung bleibender Werte
wie zum Beispiel dem Ideal gleichberechtigter Kameradschaft. Einen deutlichen
Zeitbezug weisen Kirchners Bücher jedoch in ihrem kritischen Subtext
auf, der für eine Mitwirkung Kästners spricht. Es ist höchst
wahrscheinlich, daß sich die junge Herti Kirchner nicht nur in literarischer,
sondern vor allem auch in politischer Hinsicht von ihrem älteren Freund
beeinflussen und leiten ließ. Geht man davon aus, daß Kästner
tatsächlich mitgeschrieben hat und seine junge Freundin die bei genauer
Lektüre so brisanten Bücher unter ihrem Namen veröffentlichen
ließ, so wäre dies ein weiteres Beispiel für sein riskantes
Vabanquespiel in der NS-Zeit.
Die Jugendschriften-Warte setzte den ersten Lütte-Band auf die Liste
der für "Schüler- und Jugendbüchereien nicht geeignete[n]
Werke"58, aber weitere Konsequenzen scheint es nicht gegeben zu haben. Die
Nationalsozialisten duldeten, vermutlich aus Unkenntnis, schließlich
auch die Existenz eines Verlages, der, wie Frank Flechtmann in einer Veröffentlichung
über Williams & Co. aufgedeckt hat, noch bis 1940 für einen
jüdischen (Janusz Korczak) und einen emigrierten (Wilhelm Speyer) Schriftsteller
warb.59
Kirchners und Kästners Kinderbücher? Möglichkeiten eines
Vergleichs
Es erscheint verwunderlich, daß eine aufstrebende Filmschauspielerin
von noch nicht einmal 25 Jahren am Anfang einer vielversprechenden Karriere
zwischen ihren Drehterminen Kinderbücher schreibt. Dafür scheinen
zwei Erklärungsmodelle plausibel zu sein:
1. Die Bekanntschaft zu Kästner, für dessen Bücher sich
Herti Kirchner schon seit ihrer Kindheit begeisterte, wird eine entscheidende
Rolle gespielt, Kirchners eigene literarische Ambitionen geweckt und ihren
Schreibstil geprägt haben. Kästners Kinderbücher dienten
der jungen Autorin ganz offensichtlich als Vorbild, weisen sie doch in Sprache,
Handlungsverlauf und Figurenzeichnung deutliche Parallelen auf.
2. Vielleicht ist das Gerücht, Kästner selbst habe diese Bücher
geschrieben und unter dem Namen seiner Freundin veröffentlicht, um
das ihm auferlegte Schreibverbot zu umgehen, doch nicht aus der Luft gegriffen.
Zumindest eine Co-Autorschaft ist anzunehmen.
Wie Marion Schweitzer in dem erwähnten Gespräch bekräftigte,
ist damals jeder in Kästners Umfeld von seiner Autorschaft ausgegangen.
Sie selbst gibt sich noch heute von der Richtigkeit dieses Gerüchts
überzeugt, zumal die Rolle der Kinderbuchautorin gar nicht zu Herti Kirchner
gepaßt hätte.60 Die Filmschauspielerin trat nicht nur einmal als
Verfasserin eines Kinderbuches an die Öffentlichkeit. Das 1937 erschienene
Buch Lütte. Geschichte einer Kinderfreundschaft erhielt 1938 mit Wer
will unter die Indianer? seine Fortsetzung, und zwei weitere Buchprojekte
aus demselben Jahr, 67 Sommersprossen und Die Maße der Venus, scheinen
vollkommen in Vergessenheit geraten, ja vielleicht nie an die Öffentlichkeit
gelangt zu sein.61
Wer Kirchners Bücher liest und Kästners Bücher kennt, dem
werden Parallelen auffallen, die auf eine nicht unwesentliche Einflußnahme
des älteren Autors und Freundes hindeuten. Da es sich um ein Vorwort
zu einer Edition handelt, kann im folgenden nicht ausführlich versucht
werden, inhaltliche Übereinstimmungen von Kirchners und Kästners
Kinderbüchern nachzuzeichnen, zumal die 'Beweiskraft' solcher Parallelen
ohnehin stark eingeschränkt ist. Aber auch ohne eine Mitwirkung Kästners
beweisen zu wollen und zu können, ist es ungemein spannend, Herti Kirchners
Bücher auf Kästner-typische Züge und Motive hin zu untersuchen.
Daher sollen einige Bemerkungen zu den, aus Sicht der Editoren, wichtigsten
Übereinstimmungen folgen.
Bei einer Analyse des ersten Kirchner-Buches, Lütte. Geschichte einer
Kinderfreundschaft, fallen zahlreiche Parallelen zu Kästners im Jahre
1931 erschienenem Kinderbuch Pünktchen und Anton ins Auge. Die Ähnlichkeit
der beiden Bücher betrifft vor allem die Personenzeichnung und -konstellation,
angefangen von der jungen Protagonistin bis zu den Nebenfiguren. Ja, sogar
bei den Tieren, die in den beiden Geschichten vorkommen, lassen sich Vergleiche
anstellen. Zwar tritt bei Lütte der Kater Pussy an die Stelle von Pünktchens
Piefke, doch taucht der Dackel in Kirchners Buch als überfütterter
Liebling der Apothekersfrau Gnutzmann wieder auf. Kirchners Hauptfigur Lütte
erinnert stark an Kästners Pünktchen. Beide Mädchen wuchsen
nur zögerlich und waren auffallend klein für ihr Alter, was sich
auch in ihren Spitznamen ausdrückt, aber sie sind nicht auf den Mund
gefallen und sich in ihrer erfrischenden, natürlich-liebenswerten Art
sehr ähnlich. Sowohl Lütte als auch Pünktchen sind phantasievoll
und unternehmungslustig, selbstbewußt und hilfsbereit. So wie Pünktchen
Geld für Anton und seine kranke Mutter verdienen will, möchte
Lütte für ihren armen Freund Kalli ein Fahrrad kaufen. Hilfsbereitschaft
und Kameradschaftlichkeit sind Werte, die in beiden Büchern hochgehalten
werden. In beiden Fällen handelt es sich um Freundschaftsgeschichten,
die sich zwischen einem reichen Mädchen und einem Jungen aus armen
Verhältnissen abspielen. Ebenso wie Pünktchen wächst Lütte
in einem reichen Haushalt mit Kindermädchen und Dienstpersonal auf
und hat ein besonders inniges Verhältnis zu ihrem Vater, der wie Herr
Pogge sehr beschäftigt, aber auch sehr gutmütig ist. Während
Pünktchens egoistische Mutter ihre Tochter nur vernachlässigt,
hat in Lüttes Fall der Tod der Mutter Vater und Tochter zusammengeschweißt.
In der Figurenkonstellation des Poggeschen Haushalts lassen sich weitere
Entsprechungen finden. Lüttes geliebte Minna, die Köchin im Hause
des Herrn Junck, ist mit ihren vierundzwanzig Jahren zwar erheblich jünger
als die dicke Berta in Pünktchen und Anton, weist aber dennoch frappierende
Ähnlichkeit mit Berta auf. Auch Minna wird als "richtiger, breithüftiger
Trampel"62 beschrieben, sie ähnelt der dicken Berta in ihrer liebenswerten,
zupackenden Art und hat zu Lütte ein ebenso inniges Verhältnis wie
Berta zu Pünktchen. Das Kinderfräulein übernimmt in beiden
Geschichten die Rolle der zänkischen, verlogenen Gegenspielerin. Fräulein
Sorge in Kirchners Lütte hat mit Kästners Fräulein Andacht
nicht nur den sprechenden Namen gemeinsam, sondern gleicht ihr auch im Aussehen
und im Charakter (beide Kindermädchen sind hager und herrisch, während
die Haushälterinnen mollig und gemütlich sind). Am Ende ist es
in beiden Geschichten das Kindermädchen, das die Familie hintergeht
und schließlich entlassen wird, Fräulein Andacht, indem sie ihrem
Liebhaber zum Einbruch in das Haus der Pogges verhilft, Fräulein Sorge,
indem sie Lütte übermäßig bestraft und zu guter Letzt
das wertvolle Silber ihres Hausherrn mitgehen lassen will. Ebenso wie viele
von Kästners Kinderbüchern kriminalistische Elemente aufweisen,
wird Kirchners Lütte zur Kriminalgeschichte, die bereits mit der Jagd
auf Lüttes geliebten Hahn beginnt. Während es in Pünktchen
und Anton mit dem hinterlistigen Gottfried Klepperbein jedoch noch einen
kindlichen Gegenspieler gibt, übernimmt der mit einem ähnlich sprechenden
Namen versehene Seppel Totenkopp in Lütte die Rolle des Helfers und
Kameraden. Neben den Einbruch- und Diebstahlszenen fallen bei der vergleichenden
Lektüre der beiden Bücher weitere Handlungsparallelen auf. Hierzu
gehört neben dem erwähnten Versuch beider Mädchen, Geld für
den Freund zu beschaffen, der blaue Brief aus der Schule, den die unaufmerksame
Lütte und der übermüdete Anton bekommen. In den beschriebenen
Figurenkonstellationen und Handlungselementen wirkt Lütte fast wie ein
'Remake' von Pünktchen und Anton, doch sind in Kirchners Geschichte
auch Elemente anderer Kästner-Bücher eingeflossen. So erinnert
der Kontrast zwischen Arm und Reich in der Freundschaft zwischen Lütte
und Kalli an Pünktchen und Anton, der Gegensatz zwischen Stadt und Land
jedoch an Emil und die Detektive, wobei Emil aus der Provinz in die Großstadt
kommt, bei Kirchner hingegen der kleine Kalli die Großstadt Berlin
verläßt. Die Zugfahrt Kallis zu seiner Schwester läßt
sofort an Kästners Beschreibung von Emils Bahnreise denken, aber während
sich Kästners Handlung hauptsächlich vor der Großstadtkulisse
Berlins entwickelt, spielt Kirchners Geschichte in ihrer Heimatstadt Kiel.
Zwar reisen Emil und seine Freunde im zweiten Band der Detektivgeschichte
ebenfalls an die Ostsee, aber die Schilderung der dortigen Umgebung gelingt
Kästner nicht annähernd so gut wie das Berliner Lokalkolorit. Zudem
hat der Wechsel des Schauplatzes bei Kästner keinen Einfluß auf
Sprache und Stil des Buches, ja nicht einmal dem urigen Kapitän Schmauch
ist seine Herkunft anzumerken, während die Sprache der Figuren und auch
des Erzählers in Herti Kirchners Büchern stark plattdeutsch geprägt
ist. Abgesehen von dieser für Kästner eher untypischen norddeutschen
Färbung haben seine Sprache und Erzählweise die Kirchner-Geschichten
ganz deutlich beeinflußt. Eine solche Einflußnahme ist bereits
in der Technik der Kapitelüberschriften zu erkennen, die mit Anspielungen
auf den Inhalt des folgenden Kapitels die Neugierde des Lesers wecken soll,
sie findet sich bei Kästner zum Beispiel im Fliegenden Klassenzimmer.
Ebenso wie bei Kästner fällt in Kirchners Büchern die unverfälschte
Umgangssprache der Kinder (Lütte: "Ich freu mich halbtot"63) auf, die
sich auch auf die Wortwahl des Erzählers überträgt (Kalli
"rannte wie'n geölter Blitz davon"64).
Brüggemann schreibt über Kirchners Kinderbuch Lütte, es
sei "mit Kästnerschem Humor erzählt".65Bei Kästner wie bei
Kirchner spielt der Humor in der Tat eine wichtige Rolle. Im Grunde sind
beider Kinderbücher sentimental, doch dient der Humor als Balance und
sorgt dafür, daß sie nicht kitschig wirken. Ist Kästner
unbestritten ein Meister der Ironie und des hintergründigen Humors,
so erhalten auch bei Kirchner zunächst kitschig klingende Sätze
wie "Alles atmete Frieden und Wohlbehagen"66 schnell wieder ihr ironisches
und humorvolles Gegengewicht.
Abgesehen von solchen konkreten inhaltlichen und sprachlichen Elementen
hat Herti Kirchner in ihrem ersten Kinderbuch viele Ideen und Motive Kästners
übernommen. Ebenso wie Kästner nimmt die junge Autorin die Sorgen
und Traurigkeiten der Kinder ernst und ganz nach Kästners Maxime "Nur
wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch"67 kritisiert sie das
Verhalten der Erwachsenen, die ihre Kindheit vergessen haben: "Aber manchmal
waren die Eltern komisch in solchen Sachen. Selbst wenn sie früher Ähnliches
erlebt hatten, erinnerten sie sich gar nicht mehr daran und konnten furchtbar
streng werden."68 Entsprechend werden Erwachsene, die sich wie Tante Lorchen,
die als "junge[s] Mädchen von über sechzig Jahren"69 bezeichnet
wird, oder die lebensfrohe Berta ihre Kindheit bewahrt haben, besonders positiv
gezeichnet.
Weitere Motive des älteren Autors und Freundes wie zum Beispiel das
Verkleidungs- und Rollenspielmotiv tauchen bei Herti Kirchner auf. Ebenso
wie Pünktchen sprudelt Lütte nur so vor phantasievollen Ideen
und verkleidet sich gerne (beispielsweise als sie mit Kalli eine Beerdigung
nachspielt). Neben der Verkleidungsfreude der Kinder könnte man in
der Tarnung des weißen Hahns eine Parallele zu den Kästnerschen
"Täuschungs-, Versteck- und Verwechslungsspielen"70 sehen, die nach
der Auffassung von Thomas Anz Kästners "brüchiger Identität",71
sicherlich aber auch seiner Freude am Rollenspiel und geschickten Täuschungsmanövern
entspringen. Noch deutlicher kommt das Kästner-typische Verkleidungsmotiv
in Kirchners zweitem Kinderbuch, der Lütte-Fortsetzung Wer will unter
die Indianer?, zum Ausdruck. In dem phantasievollen Indianerspiel der Kinder
könnte man eine Anspielung auf Kästners eigenes Verkleidungs- und
Versteckspiel als Autor sehen, so wie es sicherlich auch kein Zufall ist,
daß Kästners Arbeiten aus der NS-Zeit von den Romanfragmenten Die
Doppelgänger und Der Zauberlehrling über die Theaterstücke
unter Pseudonym bis zur in diesen Jahren konzipierten Schule der Diktatoren
in besonderem Maße von Doppelgängern und Figuren, die in fremde
Rollen schlüpfen, bevölkert sind. Zu dem Rollenspielmotiv gehört
bei Kästner der Rollentausch, wie etwa die Umkehrung der Verhältnisse
zwischen Erwachsenen und Kindern, im unpublizierten ersten Theaterstück
Klaus im Schrank, im Filmskript Dann schon lieber Lebertran, im Kinderbuch
vom 35. Mai oder in gewisser Weise später auch im Doppelten Lottchen.
Dies klingt bei Herti Kirchner an, wenn die Autorin ihre freche Protagonistin
sagen läßt: "Siehst du, Vati, du mußt nur immer gleich tun,
was ich sage."72
Das zweite Buch Kirchners erscheint eigenständiger als das erste,
stark an Kästners Pünktchen und Anton orientierte. Die Handlung
des Indianer-Bandes ist komplexer, die Bezüge zu Kästner sind
nicht an dem Vergleich mit einem einzelnen Buch festzumachen. Am ehesten
mag Wer will unter die Indianer? an Kästners Emil erinnern, geht es
doch auch hier um einen Diebstahl und den Zusammenhalt einer Kinderbande,
für die Kameradschaft und Hilfsbereitschaft an erster Stelle stehen.
So wie Gustav und seine Freunde Emil bei der Jagd nach dem Dieb unterstützen,
eilen Lütte und ihre Schwarzfußindianer dem kleinen Krümel
zur Hilfe, nur daß sie nicht "Parole Emil!" rufen, sondern laut "Kiewitt!"
schreien. Auch einige der 'Indianer' erinnern an die Bandenmitglieder aus
Berlin. Der kleine, aber eifrige Krümel zum Beispiel ist ebenso wie
der kleine Dienstag aus Emil und die Detektive der 'Nachrichtenmann' der
Bande. Der ständig hungrige 'Indianer' Rote Rübe wiederum erinnert
an eine Figur aus einem anderen Kästner-Buch, an den eßlustigen
Matthias im Fliegenden Klassenzimmer. Daneben lassen sich Bezüge zu
dem 1935 erschienenen Buch Emil und die drei Zwillinge herstellen, aus dem
zum Beispiel der an Kapitän Schmauch erinnernde alte Seemann Ohle Bart
stammen könnte. Auch die Seeabenteuer der Emil-Fortsetzung kehren in
der abenteuerlichen Bootsfahrt der Kinder in Wer will unter die Indianer?
wieder, während Ohles 'Seemannsgarn' sowohl an die Lügengeschichten
des Münchhausen als auch an die Südseeabenteuer im 35. Mai denken
läßt.
Für eine Mitarbeit oder gar Autorschaft Kästners an Herti Kirchners
Kinderbüchern lassen sich nur Indizien finden: entsprechende Gerüchte,
die inhaltlichen und motivischen Übereinstimmungen, das ideologiekritische
Potential, das große Interesse Kästners an dem Erfolg der Kinderbücher,73
die geheime Mitarbeit Kästners an Theaterstücken anderer Freunde
als mögliche Parallele. Unabhängig davon zeigen Kirchners Kinderbücher,
daß es, und zwar im Umkreis Kästners, durchaus Versuche gab,
der herrschenden Doktrin ein anderes, an die liberalen Ideen der Weimarer
Republik anschließendes pädagogisches Programm entgegenzusetzen.
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URL:http://www.gata-verlag.de/prob52.htm; Stand: 14.09.2002
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