LESEPROBE

(Inhaltsverzeichnis, ein Kapitel)







von: Schriften des Studentischen Arbeitskreises Mittelalter der Ruhr-Universität Bochum
Band 1: Quodlibet. Bochumer Arbeiten zur mittelalterlichen Geschichte.
Herausgegeben von HIRAM KÜMPER und MICHAELA PASTORS.
Eitorf: gata 2005.
(Paperback, ca. 180 S.)



Inhaltsverzeichnis
 
 
Vorwort
1066. Ein „großer Wendepunkt in der Geschichte Englands”? (Michaela Pastors)
Beda Venerabilis. Sein Leben, Werk und Einfluss auf die folgenden Generationen (Torben Gebhardt)
Erinnern und Gedenken. Bemerkungen zur spätmittelalter­lichen und gegenwärtigen Memoria, anhand der Zisterzien­ser­Innen-Nekrologe Wienhausen und Bochum-Stiepel (Karin Bastian)
Jenseits von Gadamer? Einige Skizzen zum Verhältnis von Rechts­geschichte und Hermeneutik (Hiram Kümper)
Locus sanctus. Die Wallfahrt nach Rom und die mittelalter­lichen Rompilgerführer (Petra Bernicke)
Ungleiche Brüder im Dienste der „mater ecclesia“. 
Das unterschiedliche Armutsverständnis der frühen Dominikaner und Franziskaner (Andreas Inkmann)
Die Verurteilung des Petrus Johannis Olivi (Alexander Berner)
„Presumptuous dame, ill nurtu’d Eleanor!“ Der Zauberei­prozess gegen Eleanor Cobham (Jens Müller)


1066

Ein „großer Wendepunkt in der Geschichte Englands”?

Michaela Pastors

I.

The Norman Conquest of England“, so schreibt Edward Augustus Freeman, „is the great turning point in the history of the English nation[1] – Die normannische Eroberung ist der große Wendepunkt in der Geschichte Englands.

Diese Einschätzung der Eroberung Englands durch Herzog Wilhelm von der Normandie scheint auch heute noch Gültigkeit zu haben. Schon in jungen Jahren lernt jedes englische Schulkind von der Schlacht bei Hastings und bis heute würden wohl viele Engländer auf die Frage nach wichtigen Ereignissen in der Geschichte ihres Landes als erstes das Jahr 1066 nennen. Tatsächlich war diese wohl berühmteste Schlacht auf englischem Boden nur der Beginn einer Entwicklung, die zu weitreichenden Veränderungen auf fast allen Ebenen des alltäglichen Lebens führte. Seit dem Einfall der Normannen kannte England Feudalismus, Sprache und Kultur auf der Insel wurden größtenteils französisch, das Rechts- und Kirchensystem wurde verändert und selbst in der Architektur und Kunst findet man mit dem Jahr 1066 eine deutliche Zäsur. Gerade diese Vielzahl an größeren und kleine­ren Veränderungen führte dazu, dass die normannische Erobe­rung zu einem sehr kontroversen Thema in der Historiographie[2] wur­de. Immer wieder findet sich auch in den zahlreichen Beiträgen zur normannischen Geschichte Englands die Aussage Freemans wieder, die zum Titel dieses Auf­satzes gewählt wurde[3].

 

Aber kann man wirklich von einer radikalen Zäsur des Jahres 1066 sprechen? Hat sich England mit der Schlacht bei Hastings wirklich drastisch verändert? Gab es keinerlei Kontinuität?

Da diese Fragen wohl mit „Nein“ beantwortet werden müssen, wurde der Titel dieses Aufsatzes mit einem Fragezeichen versehen. Denn bei einer genaueren Betrachtung der Beziehungen zwischen England und der Normandie vor der Landung Herzog Wilhelms und dessen anschließender Herrschaft über die Insel lässt sich die Ein­schätzung einer Zäsur zumindest nicht uneingeschränkt aufrecht­er­halten.

 

Zur Erörterung der Frage nach einem Wendepunkt im Jahre 1066 sollen im Folgenden drei Zeitabschnitte des 11. Jahrhunderts in England genauer betrachtet werden:

Das Jahr 1066 kann nicht als singuläres Ereignis verstanden werden, es steht vielmehr am Ende einer langen Entwicklung, die schon zum Ende des 10. Jahrhunderts begann. Daher muss zunächst das Verhältnis Englands und der Normandie seit Beginn des 11. Jahrhunderts betrachtet werden, bevor die Ereignisse des Jahres 1066 erläutert werden können. Im Anschluss daran folgt eine kurze Übersicht der normannischen Herrschaft in England, um auch hier wiederum die Frage nach Neuerungen oder Kontinuität zu stellen. 

 

II.

Im 9. und 10. Jahrhundert hatte sich das angelsächsische England immer wieder mit unterschiedlichem Erfolg gegen Einfälle der Wikinger zur Wehr gesetzt. Die dänisch-norwegischen Angreifer, die Nordmannen, konnten bei all diesen Überfällen auf die Unterstützung ihrer inzwischen in Frankreich sesshaft gewordenen Landsleute in der nach ihnen benannten Provinz Normandie rechnen. In den 90er Jahren des 10. Jahrhunderts kam es erneut zu heftigen Angriffen auf den Süden Englands durch Wikinger, gegen die sich die Angelsachsen kaum wehren konnten. In dieser Situation wurde für das angelsächsische England ein Bündnis immer dringlicher. Der angelsächsische König Ethelred II. konnte schließlich im Frühjahr des Jahres 1002 ein solches Bündnis durch seine Heirat mit Emma, der Tochter Herzog Richards I. von der Normandie, herbeiführen. Damit hatte er den dänischen Angreifern ihre Rückendeckung in der Normandie genommen und sie zumindest für kurze Zeit zurückgeschlagen.[4]

Viel wichtiger als die zeitlich begrenzte Abwehr der Dänen war jedoch die Bedeutung der Hochzeit Ethelreds II. mit Emma für die weiteren Geschehnisse des 11. Jahrhunderts, denn mit dieser Hochzeit war die Basis der späteren normannisch – angelsächsischen Beziehungen gelegt. Die Geschicke der Normandie und Englands, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten immer wieder durch Kriegs- und Beutezüge der Wikinger miteinander in Berührung gekommen waren, waren nun untrennbar miteinander verbunden[5].

 

Das Kind, das aus der Ehe Ethelreds mit Emma hervorging, Edward, der spätere englische König Edward der Bekenner, verwob die von seinen Eltern besiegelten Beziehungen der Normandie und Englands immer weiter, denn nach dem Tod König Ethelreds im Jahre 1016 floh Emma zusammen mit ihrem Sohn aus England zu ihren Verwandten in die Normandie, wo Edward aufwuchs. 

Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, die vielschichtig ineinander verwobenen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der Dynastie der normannischen Herzöge und der englischen Königsfamilie aufzuzeigen, jedoch ist es für die Erläuterung der normannischen Eroberung Englands von Bedeutung anzumerken, dass zwei der wichtigsten Personen im Zusammenhang mit der Eroberung Englands, Herzog Wilhelm von der Normandie und Edward der Bekenner, König von England, in Richard I. von der Normandie einen gemeinsamen Vorfahren hatten[6]. Diese gemein­same Abstammung muss bei der Betrachtung der Ansprüche, die Herzog Wilhelm auf den englischen Thron erhob, bedacht werden.

 

Hinzu kommt, dass Edward während seiner Jugend in der Normandie weitgehend normannische Lebensart angenommen hatte, die er nicht ablegte, als er 1042 den englischen Thron bestieg. Vielmehr ging er schon bald nach seiner Krönung dazu über, sich überwiegend mit normannischen Ratgebern zu umgeben. In der Folgezeit holte er viele normannische Adlige nach England, um sie in Staatsämter einzusetzen.

 

Es zeigt sich also, dass England und die Normandie unter Edward immer enger zusammenwuchsen und dass Herzog Wilhelm im Jahre 1066 bereits an bestehende normannisch-angelsächsische Bezie­hungen anknüpfen konnte. David Douglas bezeichnet diese nor­man­nische Tradition in England als das Erbe Herzog Wilhelms: „An intimate political relationship between Normandy and England was part of the inheritance of Duke William.”[7]

 

Auch in kultureller Hinsicht hatte die normannenfreundliche Einstellung Edwards gewichtige Auswirkungen auf England, da die „spätere Einbeziehung Englands in den kontinentalen normannisch-französischen Kulturkreis schon jetzt durch die engen Beziehungen zur Normandie vorbereitet wurde”[8].

Allerdings muss davor gewarnt werden, den Einfluss der norman­nischen Adligen in England überzubewerten, denn der angelsäch­sische Adel in England wehrte sich vehement gegen die nor­man­nischen Einflüsse und wusste seine Interessen auch gegen­über Edward dem Bekenner durchzusetzen.

Hinzu kommt, dass der junge Herzog Wilhelm zu dieser Zeit in der Normandie gegen zahlreiche Revolten aufständischer Adliger zu kämpfen hatte[9], die Normannen also auch ohne sich um die Politik Edwards zu kümmern in ihrem eigenen Land jenseits des Kanals viele Probleme zu lösen hatten.

 

Im kirchlichen Bereich hatte Edwards pro-normannische Politik mehr Erfolg als in der weltlichen Tagespolitik, denn es gelang ihm, einige der wichtigsten englischen Bistümer an Normannen zu vergeben. Als Beispiel lässt sich hier Robert von Jumièges nennen: Ihm wurde 1044 das Bistum London, später Canterbury übertragen.

Auch diese Ernennung trug dazu bei, dass sich in England immer stärkerer Widerstand unter dem angelsächsisch-dänischen Adel gegen die Normannenpolitik Edwards des Bekenners regte. Im Jahre 1051 kam es schließlich zum offenen Konflikt, als der mächtige Godwine, Graf von Wessex, sich dem Befehl des König widersetzte und ein Heer zusammenzog, um gegen Edward zu ziehen. Ihm war jedoch kein Erfolg beschieden, Graf Godwine musste aus England fliehen.[10]

 

Während dieses Jahres, das häufig als Krise der Herrschaft Edwards des Bekenners bezeichnet wird, gelangten jedoch die Beziehungen zwischen England und der Normandie auf einen Höhepunkt - nicht zuletzt, weil Edward der angelsächsischen Bedrohung mit Unterstützung aus der Normandie begegnete.

So hat also der Widerstand gegen den normannischen Einfluss letztendlich eben diesen Einfluss verstärkt.

 

Allerdings gab es einen Einschnitt des normannischen Einflusses in England, denn Graf Godwine konnte nur ein Jahr nach seiner Verbannung nach England zurückkehren und erzwang seine frühere Position zurück. Da Edwards Normannenpolitik sehr unpopulär unter der angelsächsischen Bevölkerung war, erhielten Graf Godwine und sein Sohn Harold viel Unterstützung des angelsächsischen Adels, und der geschwächte König Edward musste ihnen Zugeständnisse machen. Hierzu zählte auch die Verbannung zahlreicher Normannen aus England, unter ihnen Bischof Robert von Jumièges.

Nach dem Tod Graf Godwines setzte dessen Sohn Harold, der inzwischen zum einflussreichsten Mann Englands geworden war, die väterliche anti-normannische Politik fort. [11]

 

Doch trotz dieses starken angelsächsischen Widerstandes bleibt die Tatsache bestehen, dass die Normandie inzwischen politisch und kulturell eng mit den Geschicken Englands verbunden war.

Der Aufstand Graf Godwins und die Situation, in der sich Edward der Bekenner dadurch sah, führten zu einem weiteren für das Jahr 1066 entscheidenden Ereignis: der Ernennung Herzog Wilhelms zum Nachfolger Edwards auf dem englischen Thron.

Da Edward der Bekenner kinderlos war, wurde die Nachfolgefrage aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes zu einem wachsenden Problem für ihn. Nach dem Geblütsrecht wäre Edgar, ein Enkel König Ethelreds II. und Großneffe des Bekenners, Edwards Nachfolger gewesen, aber er war im Jahre 1051, zur Zeit, als sich die Herrschaft des Bekenners in der Krise befand, noch ein Kind und lebte außerdem in Ungarn, weit weg von den Geschehnissen in England.

Aber auch Wilhelm, Herzog der Normandie, war über seinen Urgroßvater Herzog Robert I., den Großvater Edwards des Bekenners, mit dem englischen König verwandt. Damit kam Herzog Wilhelm als Thronfolger für den englischen Thron durchaus in Frage.

Zwar berichten nur die normannischen Quellen[12] von der Ernennung Wilhelms zum Nachfolger Edwards, während die Anglo-Saxon Chronicles[13] hierzu schweigen[14], dennoch gilt es inzwischen als unbestritten, dass dieses Versprechen an Herzog Wilhelm gegeben wurde: „There can be no reasonable doubt that before the end of 1051 he [Edward] had nominated William of Normandy as his heir.[15]

 

Über die genauen Umstände, wie das Versprechen an Wilhelm überbracht wurde, gibt es unterschiedliche Ansichten. In älteren Veröffentlichungen, wie den Schriften von Edward Augustus Freeman[16] und Frank Merry Stenton[17], wird die Ansicht vertreten, dass Wilhelm persönlich nach England gekommen sei, um das Versprechen von Edward entgegenzunehmen. Tatsächlich spricht Manuskript D der Anglo-Saxon Chronicles von einem solchen Besuch des normannischen Herzogs in England, ohne allerdings eine mögliche Ernennung Herzog Wilhelms zum englischen Thronfolger zu erwähnen[18]. Diese Quelle ist jedoch die einzige, die von einem Besuch berichtet, auch unter den normannischen Chronisten[19] findet sich hierzu kein Vermerk.

Neben dem fehlenden Quellenbeleg erscheint es auch aufgrund der politischen Lage in der Normandie zu dieser Zeit[20] recht unwahrscheinlich, dass Herzog Wilhelm die Zeit gefunden hat, eine Reise nach England zu unternehmen. Daher geht die neuere Geschichtsschreibung davon aus, dass das Versprechen Edwards an Herzog Wilhelm durch Bischof Robert von Jumièges überbracht worden ist, der sich im Jahre 1051 auf eine Reise nach Rom begab, um von Papst Leo IX. sein Pallium in Empfang zu nehmen[21]. 

 

Für die Ereignisse des Jahres 1066 ist jedoch nicht nur die Ernennung Wilhelms zum Nachfolger Edwards auf dem englischen Thron von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass diese Entscheidung  Edwards von Graf Harold von Wessex, der inzwischen der mächtigste Mann Englands neben dem König war, anerkannt wurde.

Es wird inzwischen als erwiesen angesehen, dass Graf Harold Godwine, der seit dem Tode seines Vaters dessen anti-normannische Politik weiterführte und sich stetig gegen Edward den Bekenner durchzusetzen versuchte, wahrscheinlich im Jahre 1064 eine Reise in die Normandie unternahm[22]. Was genau der Grund für diese Reise war, ob sein Schiff durch einen Sturm während einer Ver­gnügungsfahrt an die normannische Küste getrieben wurde, ob er auf einer Reise nach Flandern war oder ob er sich absichtlich in die Normandie begeben hat, ist umstritten. Die genauen Ereignisse während seines Aufenthaltes in der Normandie sollen hier nicht weiter erörtert werden, wichtig für die vorliegende Fragestellung ist nur, dass Graf Harold Herzog Wilhelm während seines Aufenthaltes an dessen Hof einen Eid auf einen Reliquienschrein schwor[23]. Mit diesem Eid wurde er nicht nur Wilhelms Lehnsmann, sondern erkannte ihn auch als Nachfolger Edwards an - dies bleibt bei der Betrachtung des Jahres 1066 zu bedenken.

 

Obwohl die genauen Umstände des Versprechens an Herzog Wilhelm wohl noch zu untersuchen sind, ist seine Ernennung zum Nachfolger Edwards des Bekenners und deren Akzeptanz durch Graf Harold von Bedeutung für die Betrachtung der Eroberung Englands im Jahre 1066, denn dadurch erscheinen die Ereignisse des Jahres 1066 in einem ganz anderen Licht. Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch den Beinamen Wilhelms, „der Eroberer”, rechtfertigen? War Herzog Wilhelm nicht vielmehr der rechtmäßige Nachfolger Edwards, dessen legitimes Recht auf den englischen Thron ihm durch Graf Harold Godwine streitig gemacht wurde?

Zumindest die normannischen Quellen, vor allem der Teppich von Bayeux[24], entwerfen dieses Bild der Ereignisse. Auf dem Teppich ist Wilhelm kein Eroberer, sondern der betrogene legitime Erbe Edwards des Bekenners, der den eidbrüchigen Grafen  Harold von Wessex für sein Vergehen bestraft[25].

Diese normannische Darstellung von Graf Harold als Eidbrüchigem muss auch bei der heutigen Interpretation der Eroberung Englands berücksichtigt werden, denn der Eid ist nicht in den Bereich der Legende zu verweisen. Vielmehr stellt auch er einen weiteren Grund für die Frage dar, inwieweit Herzog Wilhelm tatsächlich als Eroberer betrachtet werden kann.

 

Zusammenfassend lässt sich für die Jahre vor 1066 sagen, dass es schon seit Ende des 10. Jahrhunderts enge Beziehungen zwischen der Normandie und England gegeben hat und dass spätestens seit der Hochzeit Emmas von der Normandie mit dem englischen König Ethelred II. die Geschicke der beiden Länder untrennbar miteinander verbunden waren. Diese Verbindungen wurden durch die normannenfreundliche Politik Edwards des Bekenners immer weiter gefestigt, bis schließlich durch sein Versprechen an Wilhelm die Verbindung der Normandie und Englands besiegelt wurde. Graf Harold von Wessex, der Gegner Wilhelms in der Schlacht von Hastings, hatte Wilhelm einen Gefolgschaftseid geschworen und ihn damit als rechtmäßigen Nachfolger auf dem englischen Thron anerkannt.

Berücksichtigt man das Wilhelm gegebene Versprechen und den Schwur Graf Harolds, so erscheint es, als müsse man der Darstellung der normannischen Chronisten, Wilhelm habe nur den ihm rechtmäßig zustehenden Thron verteidigt, folgen und damit eine Zäsur des Jahres 1066 verneinen. Es wäre bei dieser Betrachtung vielmehr ein Bruch gewesen, wenn Graf Harold von Wessex sich in Hastings durchgesetzt hätte. Die Krönung Wilhelms zum englischen König wäre unter dieser Prämisse der vorbestimmte Lauf der Thronfolge.

 

Ob die Bezeichnung „Eroberung” für das Jahr 1066 dennoch zutreffend ist und ob diese Eroberung einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Englands darstellt, kann nur entschieden werden, wenn die Ereignisse des Jahres selbst und vor allem die Auswirkungen des Normanneneinfalls in England betrachtet werden.

 

III.

Der genaue Ablauf der Geschehnisse dieses sehr ereignisreichen Jahres soll hier nicht erläutert werden, denn er wurde in zahlreichen Veröffentlichungen eingehend beschrieben.[26] Daher sollen nur einige, für den Ausgang des Jahres bedeutende Ereignisse kurz erörtert werden.

 

Am 5. Januar 1066 starb der englische König Edward der Bekenner, ohne einen leiblichen Erben für den Thron zu hinterlassen. Mit seinem Tod begann der Wettkampf um die Nachfolge, der sich schon zu Edwards Lebzeiten zwischen Herzog Wilhelm von der Normandie und Graf Harold von Wessex abgezeichnet hatte. Neben ihnen stellten weitere Personen Ansprüche auf den englischen Thron, wie z.B. der norwegische König Harold Hardraada und Edgar, der Großneffe Edwards, der zur Zeit in Ungarn lebte[27]. Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen[28], und während beim Tode des Bekenners die Nachfolgefrage noch offen war, zeichnete sich schon bald eine Entscheidung zwischen Graf Harold, der sich bereits am Tage von Edwards Beisetzung zum König von England krönen ließ[29], und Wilhelm ab.

 

Dass aus der entscheidenden Schlacht bei Hastings im Oktober Wilhelm als Sieger hervorging und sich am Weihnachtstag in London zum englischen König krönen ließ, ist hinlänglich bekannt.

Im Hinblick auf die Frage nach dem Jahr 1066 als einem Wendepunkt in der Geschichte Englands soll jedoch erörtert werden, ob Herzog Wilhelm tatsächlich als der Eroberer nach England kam, als der er in die Geschichte eingegangen ist. Dabei soll nicht angezweifelt werden, dass er England erobert hat, denn die Schlachten des Jahres 1066 und der nachfolgenden Jahre zur Sicherung der normannischen Herrschaft in England sind historische Fakten und stehen nicht zur Diskussion. Vielmehr sollen die Gründe, aus denen Herzog Wilhelm nach England kam, genauer betrachtet werden.

 

Das Vermächtnis Edwards des Bekenners, Wilhelm solle sein Nachfolger auf dem englischen Thron werden, wurde bereits erläutert. Für Herzog Wilhelm sah somit die Situation nach dem Tode Edwards ganz anders aus, als wir sie heute wahrnehmen. Er sah sich als rechtmäßigen Nachfolger Edwards auf dem englischen Thron, während Graf Harold, der ihm sogar einen Gefolgschaftseid geleistet hatte, die Krone usurpierte.

 

An dieser Stelle verlohnt ein Blick in die Quellen.

Die normannischen Chronisten berichten zur Krönung Harolds, er habe nach dem Tode König Edwards das Königreich an sich gerissen[30]. In den Manuskripten C, D und E der Anglo-Saxon Chronicles  ist dagegen zu lesen, König Edward habe auf dem Totenbett Harold zu seinem Nachfolger bestimmt[31]. Wenn dies zutrifft, wäre damit das ältere Versprechen an Herzog Wilhelm hinfällig geworden. Andererseits gibt es eine Anmerkung in der Vita Edwardi, die davon berichtet, Edward sei bei seinem Tode nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen[32]. Auch bleibt nicht auszuschließen, dass der sterbende König von den anwesenden Großen seines Reiches unter Druck gesetzt worden ist, Graf Harold die Krone zu übergeben.

 

Hinzu kommt die Frage, warum Harold so in Eile war. Bereits einen Tag nach dem Tode Edwards, am Tag seiner Beerdigung, wurde Graf Harold zum neuen König von England gekrönt. War diese Hast lediglich zum Wohle Englands, um einem führerlosen Reich, das darüber hinaus noch der Gefahr eines Überfalls der Norweger ausgesetzt war, eine starke Hand zu geben? Oder gab es doch Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Thronbesteigung durch den Grafen von Wessex?

 

Ob Edward der Bekenner tatsächlich noch vor seinem Tode den Grafen von Wessex zu seinem Nachfolger bestimmt hat, wird wohl nicht endgültig zu klären sein. Die Möglichkeit ist jedoch gegeben und scheint nicht abwegig[33]. Das Ergebnis dieser Ernennung, die Krönung Graf Harolds, erscheint jedoch wesentlich mehr als ein Bruch in der Thronfolge, als es die Thronbesteigung Herzog Wilhelms gewesen wäre. Schließlich entstammte Graf Harold keiner königlichen Familie und scheint vor dem Januar 1066 auch nicht als Nachfolger Edwards in Betracht gekommen zu sein. David Douglas bezeichnet die Krönung Harolds sogar als eine Art Revolution: „[...] and an earl, with no pretentions to royal descent, was allowed to acquire the English throne. It was, in itself, something of a revolution, and the act bore the appearance of a coup d`état executed with extreme speed and great resolution.”[34]

 

Die normannische Sicht der Krönung Harolds wird auf dem Teppich von Bayeux  besonders deutlich dargestellt.

Relativ am Anfang des Teppichs sieht man Harold beim Ablegen seines Eides auf Wilhelm. Er schwört auf einen Reliquienschrein und erkennt damit nicht nur Wilhelm als seinen Herrn, sondern auch dessen legitimes Recht auf die Nachfolge Edwards an. Auch ist zu sehen, wie Wilhelm Harold Waffen in die Hand gibt, ihn also zu seinem Waffenbruder macht und mit ihm diverse Feldzüge in der Normandie gegen aufständische Adlige unternimmt[35]. Beide werden im Einklang miteinander gezeigt, was den späteren Eidbruch Harolds umso schwerwiegender erscheinen lässt.

Bei der Abbildung der Ereignisse des Januar 1066 scheint allerdings ein Fehler unterlaufen zu sein, denn die Beerdigung König Edwards wird vor seinem Tod dargestellt[36].

Aber ist dies wirklich ein Fehler? Oder ist es die Absicht der Hersteller des Teppichs gewesen, die Ereignisse in dieser Abfolge darzustellen? Die Aussage der umgekehrten Reihenfolge könnte auch sein, dass die Beerdigung des Königs und die darauf folgende Krönung Harolds in größter Eile stattgefunden haben[37]. Geht man von dieser Interpretation aus, erscheint die in der folgenden Szene abgebildete Krönung Harolds als fragwürdige Handlung. Zumindest wird an dieser Stelle die Intention der Hersteller des Teppichs, Harold als unrechtmäßigen König zu zeigen, klar erkennbar.

Auch die Darstellung der Krönung selbst lässt an ihrer Unrechtmäßigkeit keinen Zweifel aufkommen. Neben Harold ist ein Bischof zu erkennen, der aufgrund der Bildüberschrift als Bischof Stigand identifiziert werden kann[38]. Stigand war nach der Ver­treibung Roberts von Jumiège zum Erzbischof von Canterbury ge­weiht worden, jedoch die Umstände seiner Amtseinsetzung gelten als sehr fragwürdig. Das Papsttum erkannte ihn nicht als Erzbischof an[39], wodurch allein seine Anwesenheit bei der Krönung diese als illegitim erscheinen lässt. Ob er jedoch tatsächlich die Krönungs­zere­monie durchführte oder ob dies ein Fehler in der Darstellung des Teppichs von Bayeux ist, steht nicht fest[40].

In jedem Fall wird deutlich, dass die Hersteller des Teppichs eindeutig die Intention verfolgten, Herzog Wilhelms Anspruch auf den englischen Thron zu unterstreichen und seinen Kontrahenten Harold ins Unrecht zu stellen.

 

Berücksichtigt man diese normannische Sichtweise, scheint die Wahrnehmung, Wilhelm sei als unrechtmäßiger Eroberer nach England gekommen, nun in gewisser Weise revidiert werden zu müssen. Aus normannischem Verständnis heraus hat Herzog Wilhelm nur seinen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron verteidigt, der ihm von Graf Harold streitig gemacht worden war.

Nun lässt sich argumentieren, dass es aus der Sicht der Angreifer immer eine Rechtfertigung gibt. Dagegen kann eingewendet werden, dass Wilhelms Anspruch nicht in den Bereich der Legende zu verweisen ist, sondern Edward der Bekenner  ihn tatsächlich zu seinem Nachfolger ernannt hat[41]. Während dies unbestreitbar ist, bleibt Edwards zweites Versprechen an Harold fragwürdig. Ob er es überhaupt gegeben hat und wenn, ob es unter Zwang geschah, ist unklar. Selbst sein Biograph zweifelt daran, dass Edward dieses Versprechen im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gegeben hat[42].

 

Bedenkt man darüber hinaus noch die Tatsache, dass Edward während seiner gesamten Regierungszeit eine sehr norman­nenfreundliche Politik betrieben hat und dass normannische Adlige schon seit Beginn des Jahrhunderts in England Fuß gefasst hatten, erscheint das Jahr 1066 in einem anderen Licht als zuvor angenommen. Es ist nicht mehr unbedingt ein großer Wendepunkt, sondern kann auch als logische Fortführung von Entwicklungen gesehen werden, die schon seit Beginn des 11. Jahrhunderts andauerten.

 

IV.

Um das Ausmaß der Eroberung einschätzen zu können und um zu sehen, ob das Jahr 1066 tatsächlich einen Wendepunkt für England darstellte, bedarf es jedoch auch noch einer Betrachtung der Folgejahre.

 

Wie bereits eingangs erwähnt, waren die Auswirkungen der normannischen Eroberung in jedem Bereich des politischen und kulturellen Lebens spürbar und wurden auch in jedem nur denkbaren Kontext untersucht.[43]

Da es unmöglich ist, hier auf alle Einzelheiten einzugehen, musste eine Auswahl getroffen werden. Es wäre naheliegend gewesen, sich auf die Einführung des Lehnswesens in England zu beschränken, doch da dieses Thema bereits in zahlreichen Veröffentlichungen eingehend behandelt wurde, soll hier eine andere, weitreichende Veränderung nach der normannischen Eroberung thematisiert werden, die Etablierung einer neuen, normannischen Aristokratie in England,

 

Die Hauptquelle, die an dieser Stelle zu nennen ist, ist das Domesday Book, ein im Jahre 1086 auf Befehl Wilhelms angelegtes Verzeichnis, in dem sein neues Reich genau beschrieben wird. Alle dem König geschuldeten Leistungen sowie Umfang und Wert aller Güter der Lehnsträger der Krone, von der Größe der Hufen bis zur Anzahl der Hühner auf einer Hufe, wurden erfasst. Diese Angaben wurden für drei Zeitpunkte, die Regierungszeit Edwards des Bekenners, für das Jahr 1066 und für das Jahr der Erhebung, also 1086, erfragt[44].

 

Studiert man das Domesday Book, fällt sofort auf, dass für das Jahr 1086 unter den Kronvasallen nur noch sehr wenige angelsächsische Namen zu finden sind. Zum Ende der Herrschaft Wilhelms in England waren nur noch 8% der englischen Ländereien im Besitz englischer Adliger, der angelsächsische Adel war so gut wie ausgelöscht: „It [der angelsächsische Landbesitz] had ceased to be a dominant part of English society.”[45] Viele kleinere Lehen waren außerdem zu großen Lehen zusammengelegt und einem neuen normannischen Herrn unterstellt worden. Die gesamte Lehnsstruktur war damit verändert worden.

Somit scheint die Frage, ob Wilhelm den Beinamen „der Eroberer“ verdient hat, beantwortet. Er hatte den gesamten angelsächsischen Adel abgesetzt – will man dies nicht als Eroberung bezeichnen, was dann?

 

Dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass dieses Bild von einer vollkommenen Eroberung auch eingeschränkt werden kann. Hierzu tragen neben anderen vor allem die Werke von Judith A. Green[46] und Peter Sawyer[47] bei, deren Argumentation im Folgenden zu einem Teil vorgestellt werden soll.

 

Nach Sawyers Ansicht ist der vom Domesday Book erweckte Eindruck, in den Jahren nach der normannischen Eroberung habe sich in England ein revolutionärer Wechsel in der Lehnsstruktur vollzogen, irreführend, denn die wahren Besitz- und Herrschafts­verhältnisse Englands vor der Eroberung würden vom Domesday Book nicht widergespiegelt.[48] Nicht nur die Identifizierung der im Domesday Book genannten Lehnsmannen[49] erschwere die genaue Erforschung der Besitzverhältnisse vor dem Einfall der Nomannen, sondern auch die Tatsache, dass für die Zeit vor 1066 nicht immer der eigentliche Besitzer des Landes genannt würde. Sawyer fand im Hinblick auf die Neuorganisation der Lehnsstruktur im normannischen England heraus, dass viele im Domesday Book verzeichneten Lehen nicht erst seit der Eroberung durch die Normannen, sondern schon zur Zeit Edwards des Bekenners lediglich Unterlehen waren. Viele derjenigen, die für die Jahre unter Edward dem Bekenner als Kronvasallen verzeichnet sind, seien schon zu dessen Regierungszeit lediglich Unterlehnsmannen gewesen, deren Herr nicht namentlich genannt wurde.[50]

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich, dass es unter Wilhelm weitaus weniger Zusammenlegungen von Lehen gegeben hat, als im Domesday Book der Anschein erweckt wird. Viele große Lehen haben schon vorher existiert, waren nur nicht als solche in die Erhebung eingegangen.

Somit kann der vom Domesday Book erweckte Eindruck einer radikalen Veränderung der Lehnsstruktur relativiert werden.

 

Neben Peter Sawyer schränkt auch Judith Green in ihrem Buch „The Aristocracy of Norman England[51] die allgemeinen Ergebnisse der Forschung über das Domesday Book ein.

Zwar betont auch sie, dass die Einführung einer neuen Aristokratie eine besonders weitreichende Veränderung nach 1066 war[52], sie weist jedoch darauf hin, dass die drastischen Veränderungen nur auf den obersten sozialen Ebenen stattfanden, während in den unteren Schichten der sozialen Hierarchie wesentlich weniger verändert wurde, als allgemein angenommen wird.

Green geht davon aus, dass die Protagonisten der Eroberung Englands nur eine kleine Gruppe von Männern waren, die aus Wilhelms engster Umgebung kamen. Unter ihnen wurden nach 1066 die englischen Ländereien verteilt.[53] Hinsichtlich dieser Landver­teilung vertritt sie zwei Thesen: dass es eine starke Kontinuität im Grundbesitz aus angelsächsischer Zeit gab und dass die Neuvergabe von Ländereien ordentlich und in einem rechtlichen Rahmen durchgeführt wurde.

 

Mit ihrer ersten These schließt sie sich der Argumentation Sawyers an, denn auch sie verweist darauf, dass diejenigen, die im Domesday Book als Pächter genannt werden, tatsächlich nur Unterpächter gewesen sein könnten, deren Herr nicht verzeichnet wurde. Daher sei es nicht möglich, die genauen Besitzverhältnisse vor der Eroberung zu rekonstruieren[54], ohne die sich jedoch keine zuverlässigen Aussagen über die Enteignungen und Neuvergaben von Ländereien machen ließen.

 

Ihre zweite These, die Neuvergabe sei in einem rechtlichen Rahmen durchgeführt worden, belegt Green anhand zahlreicher regionaler Bei­spiele[55].

In ihnen allen zeigt sich, dass Wilhelm sich sehr intensiv dafür einsetzte, dass die Männer aus seiner Gefolgschaft, die er mit Ländereien belehnte, die rechtliche Position ihrer angelsächsischen Vorgänger einnahmen - sie übernahmen nicht nur deren Ländereien mit allen Vorrechten, sondern auch ihre Pflichten. Nur dort, wo die Sicherheit der neuen Herrschaft gefährdet war, habe es radikale Veränderungen in der Struktur des Grundbesitzes gegeben. So seien beispielsweise im Süden Englands entlang der Küste sowie im Westen an der Grenze nach Wales die bestehenden Grenzen auf­gehoben und kleinere Fürstentümer gebildet worden, um das anglo­normannische Reich vor Angriffen von innen und außen zu schützen.[56]

 

Neben einer genauen Betrachtung der Art und Weise des Land­transfers hat Judith Green auch untersucht, welche Ländereien an neue Herren übergeben wurden. Sie stellte dabei fest, dass es sich fast ausschließlich um solche Ländereien handelte, deren angel­säch­sische Herren entweder in Hastings gekämpft oder danach Wider­stand gegen den neuen König geleistet hatten[57]. Wiederum zeigt sich, dass es unter denjenigen Engländern, die sozial niedriger ge­stellt waren oder keinen besonderen Einfluss ausüben konnten, wesentlich weniger Enteignungen gegeben hat als in den oberen sozialen Schichten. Unter den weniger einflussreichen Familien haben die meisten ihren Besitz entweder behalten oder zumindest wiedererlangen können.

Schon Frank M. Stenton bezeichnete diese in geordneten Bahnen ver­laufende Landübernahme als eine herausragende Leistung Will­helms: „It is a remarkable proof of the Conqueror's statesmanship that this tenurial revolution never degenerated into a scramble for land.”[58]

 

In Bezug auf die oberen Adelsschichten ist noch hinzuzufügen, dass die angelsächsische Aristokratie aufgrund großer Verluste während der Aufstände gegen Wilhelm in den Jahren 1068 bis 1071 zu Zeiten der Domesday Erhebung ohnehin schon sehr geschwächt war[59]. Neben denen, die aufgrund ihrer Auflehnung gegen Wilhelm ent­eignet worden oder dabei umgekommen waren, sind viele freiwillig ins Exil nach Schottland oder Flandern gegangen. So wurden auch ohne  Enteignungen immer wieder Lehen frei, die Wilhelm neu vergeben konnte. Auch dies bleibt zu bedenken, wenn man von der Ablösung der angelsächsischen Aristokratie durch die Normannen spricht.

 

Darüber hinaus weist Green darauf hin, dass nach 1087 nur noch sehr wenige normannische Adlige nach England gekommen seien. Die Ansiedlung von Normannen in England habe zu einem überwiegenden Teil direkt nach 1066 stattgefunden. Zumindest für die Mitglieder der normannischen Aristokratie lasse sich nicht nachweisen, dass in späteren Jahren noch viele Adlige nach England gekommen seien.[60]

 

Neben der oberen Adelsschicht, unter der die Auswirkungen der Eroberung tatsächlich verheerend waren, scheint es also nach den Untersuchungen von Judith Green in den unteren Schichten weitaus mehr Kontinuität aus angelsächsischer Zeit gegeben zu haben, als allgemein angenommen. Hier kann demnach nicht von einer radikalen Zäsur durch die Normannen gesprochen werden.

 

In diesem Zusammenhang sei nur am Rande erwähnt, dass Wilhelm auch sehr bemüht war, sich der angelsächsischen Institutionen, die er in England vorfand, zu bedienen. So ist z. B. das englische Gesetz von 1087 in den meisten Details dasselbe wie das unter König Edward und damit auch dasselbe wie unter seinen Vorgängern König Knut und Ethelred. Ähnliches lässt sich für das Fiskalsystem, die Kanzlei (die bis dahin in der Normandie unbekannt war), das Münzwesen und andere Aspekte der angelsächsischen Ordnung sa­gen.[61]

 

Obwohl unstrittig bleibt, dass als Folge der normannischen Eroberung die gesamte englische Oberschicht ihren Einfluss verlor und durch Normannen ersetzt wurde und diese Etablierung sicherlich weitreichende Folgen hatte, zeigt sich, dass auch im Hinblick auf die Einführung einer normannischen Aristokratie in England und die Vergabe von Land an die Normannen die Aussage, es habe sich um einen radikalen Bruch mit der Lehnsstruktur in angelsächsischer Zeit gehandelt, eingeschränkt werden muss. Ein Großteil englischer Lehnsmänner in den unteren sozialen Schichten behielten ihr Land und ihre Rechte, hier hat es also keine weitreichenden Veränderungen gegeben.

Auch in dieser Hinsicht muss also die Bezeichnung „Eroberer“ eingeschränkt werden.

 

V.

Nach all diesen Ausführungen bleibt die Frage, ob das Jahr 1066 tatsächlich einen Wendepunkt in der englischen Geschichte dar­gestellt hat.

 

Betrachtet man die Beziehungen Englands und der Normandie seit Beginn des 11. Jahrhunderts, so zeigt sich, dass es bereits zahlreiche Verbindungen beider Länder und eine lange Entwicklung normannischer Einflüsse in England gegeben hat, bevor Herzog Wilhelm im Oktober 1066 mit seiner Flotte nach England über­setzte. Die Normannen kamen auch nicht wie zuvor die Wikinger auf Beutezügen nach England, sondern Herzog Wilhelm sah sich - nicht ohne Grund - als rechtmäßigen Nachfolger König Edwards.

Auch bei der Betrachtung der Folgejahre der Eroberung fällt auf, dass es mehr Kontinuität aus angelsächsischer Zeit gegeben hat, als gemeinhin angenommen wird. Zwar wurde fast die gesamte angelsächsische Oberschicht durch Normannen ersetzt, unter den weniger einflussreichen Familien hat es jedoch nicht so viele Enteignungen gegeben. Ein Teil des Lehnssystems blieb bestehen. Dies darf jedoch nicht als Anlass genommen werden, über die weitreichenden Veränderungen hinwegzusehen, die die Absetzung der angelsächsischen Oberschicht mit sich brachte. Schließlich ist es gerade diese Oberschicht, die das Wesen eines mittelalterlichen Staates maßgeblich beeinflusst.

 

Aus diesen Gründen ist eine abschließende Beantwortung der Frage nach einem Wendepunkt in der Geschichte Englands mit „ja” oder „nein” nicht möglich, vielmehr muss die Antwort „sowohl als auch” heißen.

Ein großer Wendepunkt in der englischen Geschichte, der Beginn einer sozialen Revolution oder auch nur ein zeitlich begrenzter Niedergang angelsächsischer Traditionen – als all dies wurde die normannische Eroberung in der Historiographie der letzten hundert Jahre verstanden. Welche dieser Aussagen zutrifft, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Eine Aussage von Judith Green trifft jedoch auf jeden Fall zu: Das normannische England war ein Schmelztiegel von Alt und Neu: „Norman England was a melting pot of old and new[62]. Gerade dieses Nebeneinander von alten und neuen Traditio­nen und Institutionen auf allen Ebenen des englischen Lebens ist es, was die Erforschung der normannischen Eroberung zu einer solch schwierigen und reizvollen Aufgabe sowie einer scheinbar unend­lichen Kontroverse macht. Diese Debatte wird noch lange nicht be­endet sein.



[1]  Eduard Augustus Freeman: The History of the Norman Conquest of England, Oxford 1867, Vol. 1, S. 1.

[2] Einen sehr ausführlichen Überblick über die  bisher veröffentlichten Schriften zur normannischen Eroberung vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert bietet Marjorie Chibnal: The Debate on the Norman Conquest, Manchester 1999.

[3]  David Charles Douglas bezeichnet die Eroberung Englands 1066 nicht nur als Wendepunkt der Geschichte Englands, sondern ganz Europas: „It [die Eroberung Englands] marked a turning point in the history of England and in that of medie­val Europe”; vgl. David Charles Douglas: The Norman Achievement, London 1969, S. 48.

[4]  Karl-Friedrich Krieger: Geschichte Englands von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, München 2002³, S. 71f.

[5]  Douglas: Norman Achievement, S. 29.

[6]  ebd.

[7]  David Charles Douglas: William the Conqueror, Berkeley 1964, S. 159.

[8]  Krieger: Geschichte Englands, S. 82.

[9] Zu den Machtkämpfen innerhalb der Normandie in den Jahren 1047 bis 1060 vgl. Douglas: William the Conqueror, S. 53-83.

[10] Krieger: Geschichte Englands, S. 82.

[11] Krieger: Geschichte Englands, S. 82.

[12] Gemeint sind die Gesta Normannorum Ducum des Wilhelm von Jumièges sowie die Gesta Willelmi ducis Normannorum et regis Anglorum des Wilhelm von Poitiers. Beide Schriften entstanden nur kurz nach 1066. Wilhelm von Poitiers, dessen Chronik die umfassendere ist, begleitete Herzog Wilhelm als Hofkaplan auf mehreren Feldzügen in der Normandie, bei der Expedition nach England 1066 war er jedoch nicht dabei.

[13] Die Anglo-Saxon Chronicles sind die einzige zeitgenössische angelsächsische Quelle. Alle weiteren Quellen des 11. Jahrhunderts, die uns von der norman­nischen Eroberung berichten, wurden von normannischen Chronisten verfasst. Die Aufzeichnungen der in Annalenform geschriebenen Anglo-Saxon Chronicles wurden zunächst an einem zentralen Ort im 9. Jahrhundert begonnen, später entstanden voneinander unabhängige Versionen an verschiedenen Orten, die bis zu unterschiedlichen Zeitpunkten fortgeführt wurden. Heute sind noch sechs Manuskripte und ein Fragment der Chronik erhalten, die mit den Buchstaben A bis H bezeichnet werden. Über den Zeitraum der normannischen Eroberung berichten die Manuskripte C, D und E.

[14] vgl. hierzu die Chroniken von William von Jumièges und William von Poitiers sowie die Manuskripte C, D und E der Anglo-Saxon Chronicles in: David Charles Douglas, George W. Greenaway: English Historical Documents, Vol. II: 1042-1198, London 1981, S. 103-246.

[15]  Douglas: William the Conqueror, S. 169.

[16]  Freeman: Norman Conquest.

[17]  Frank M. Stenton: Anglo-Saxon England, Oxford 1971³.

[18]  Then forthwith Count William came from overseas with a great force of Frenchmen, and the king received him and as many of his companions as suited him, and let him go again.“ zit. nach Douglas/Greenaway: EHD, S.121f.

[19]  .

[20]  .

[21] Eine ausführliche Erörterung der genauen Umstände der Ernennung Herzog Wilhelms zum Nachfolger Edward des Bekenners auf dem englischen Thron findet sich in David Charles Douglas: Edward the Confessor, Duke William of Normandy and the English Succession, in: English Historical Revue, Nr. 68, Oktober 1953, S. 526-545; vgl. auch T. J. Oleson: Edward the Confessor’s Promise of the Throne to Duke William, in: English Historical Revue, Nr. 72, April 1957, S. 221-228.

[22]  vgl. Douglas: William the Conqueror), S. 175ff.

[23]  Wilhelm von Jumièges: „Harold [...] performed fealty to him in respect of the kingdom with many oaths“, zit. nach Douglas/Greenaway: EHD, S. 229. Dieser Eid wird auch  auf dem Teppich von Bayeux dargestellt; vgl. Douglas/Greenaway: EHD, Tafel XXVII, S. 267.

[24]  Der Teppich von Bayeux ist ein bestickter Leinenstreifen mit einer Länge von ca. 68 m und einer Höhe zwischen 45, 7 cm und 53,6 cm. Obwohl häufig ange­nommen wird, er stelle die Geschichte der normannischen Eroberung dar, ist sein Hauptthema vielmehr die persönliche Beziehung zwischen Herzog Wilhelm und Graf Harold sowie Harolds Eidbruch. Der Teppich wurde wahrscheinlich vor 1082 in England angefertigt und stellt neben den Chroniken des Wilhelm von Jumièges und Wilhelm von Poitiers eine wichtige Quelle für die Ereignisse um 1066 dar. Sehr ausführliche Erläuterungen zum Teppich von Bayeux sowie einen Abdruck aller dargestellten Szenen bietet David M. Wilson: Der Teppich von Bayeux, London 1985

[25] Es scheint, als sei die Eroberung Englands durch die Normannen den Zeitge­nossen als gerechter Feldzug erschienen: Graf Harold hatte einen auf heilige Reliquien geschworenen Eid gebrochen und Herzog Wilhelm zog als Rächer für dieses Unrecht in den Krieg. Wie sehr die europäische Öffentlichkeit die Eroberung als gerechten Feldzug empfunden haben muss, lässt sich daran erkennen, dass Wilhelm vom Papst Reliquien geschenkt bekommen hat, die ihm den Sieg bringen sollten und die Wilhelm bei der Schlacht bei Hastings um den Hals getragen haben soll. vgl. Douglas: William the Conqueror, S. 187ff. Zur Idee der normannischen Eroberung als ein heiliger Krieg vgl.: Douglas: Norman Achievement; vgl. u. a. Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7) oder Stenton: Anglo-Saxon England (wie Anm. NOTEREF _Ref80335765 \h 17).

[27]  Eine eingehende Erläuterung der möglichen Nachfolger Edwards findet sich bei Douglas: Norman Achievement (wie Anm. NOTEREF _Ref80335167 \h 3), S. 44ff.

[28]  vgl. Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 193ff.

[29]  Wilhelm von Poitiers: „[...] he [Harold] seized the throne of the best of kings [Edward] on the very day of his funeral”, zit. nach Douglas/Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 232.

[30]  Wilhelm von Jumièges: „Then Harold immediately seized the kingdom, thus violating the oath which he had sworn to the duke.”, zit. nach Douglas / Green­away: EHD (wie Anm. 14), S. 229.

[31]  Manuskript C und D s. a. 1065: „Yet the wise ruler [Edward] entrusted the realm to a man of high rank, to Harold himself, [...]”, in: Douglas/Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 143; Manuskript E: „And Earl Harold succeeded to the realm of England, just as the king had granted it to him, [...]”, zit. nach Douglas / Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 144.

[32] Vita Edwardi: „The king was broken with age and knew not what he said”, zit. nach Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 182.

[33]  Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 182.

[34]  Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 182.

[35]  vgl. Tafel XXIV sowie Tafel XXV, in: Douglas/Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 264f.

[36]  vgl. Tafel XXXI sowie Tafel XXXII, in: Douglas/Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 268 und 270.

[37]  Douglas/Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 271.

[38]  vgl. Tafel XXXIII, in: Douglas/Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 271.

[39]  Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 170.

[40]  Florence von Worcester, dessen Chronik wohl im ersten Viertel des 12. Jahr­hunderts entstand, berichtet, Harold sei von Aldred, dem Erzbischof von York gekrönt worden: „[...] Harold was crowned with great ceremony by Aldred, arch­bishop of York.”, zitiert nach: Douglas/Greenaway: EHD (wie Anm. NOTEREF _Ref80335553 \h 14), S. 225.

[41]  vgl. u.a. Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 176.

[42]  vgl. Anm. NOTEREF _Ref80336161 \h 32

[43] vgl. Anm. NOTEREF _Ref80336109 \h 2. Neben Marjorie Chibnall (vgl. Anm. NOTEREF _Ref80336109 \h 2) bietet auch David Charles Douglas: The Norman Conquest and British Historians, Glasgow 1946 einen guten Überblick über die wichtigsten Veröffentlichungen zur normannischen Er­oberung Englands.

[44]  Eine genaue Erörterung der Durchführung der Erhebung bietet Vivian Hunter Galbraith: The Making of Domesday Book, Oxford 1961.

[45]  Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 266.

[46]  Judith A. Green: The Aristocracy of Norman England, Cambridge 1997.

[47]  Peter Sawyer: 1066 - 1086: A Tenurial Revolution?, in: ders. (Hg.): Domesday Book - A Reassessment, London 1985, S. 71-85.

[48] ebd., S. 72.

[49] Da in der Domesday Erhebung Namen ohne Beinamen verzeichnet wurden, ist es meist unmöglich zu entscheiden, wie viele verschiedene Lehnsmannen durch einen Namen bezeichnet werden; vgl. Sawyer: Tenurial Revolution (wie Anm. NOTEREF _Ref80336246 \h 47), S. 72.

[50] vgl. ebd., S. 76f.

[51] Green: Aristocracy (wie Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46).

[52] Green: Aristocracy (wie Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46), S. 1.

[53] Green: Aristocracy (wie Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46), S. 47. Douglas spricht davon, dass fast die Hälfte der englischen Ländereien an nur 11 Männer vergeben worden seien; vgl. Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 269.

[54]  vgl. ebd., S. 78

[55] Green: Aristocracy (vgl. Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46) enthält eine sehr detaillierte Beschreibung der Enteignungen und Neuvergaben von Ländereien in allen englischen Graf­schaf­ten (vgl. S. 54 bis 99).

[56] Green: Aristocracy (wie Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46), S. 50ff.

[57] Green: Aristocracy (wie Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46), S. 53f.

[58]  Stenton: Anglo-Saxon England (wie Anm. NOTEREF _Ref80335765 \h 17), S. 626.

[59]  vgl. Douglas: William the Conqueror (wie Anm. NOTEREF _Ref80335249 \h 7), S. 211ff.

[60] vgl. Green: Aristocracy (wie Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46), S. 136. Green schließt zwar nicht aus, dass eine Migration der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten stattge­fun­den hat, sie hält eine solche aber in größerem Rahmen für sehr unwahrschein­lich.

[61]  vgl. Reginald R. Darlington: The Norman Conquest, London 1963. Hier findet sich eine ausführliche Erörterung der aus angelsächsischer Zeit übernommenen Institutionen und Traditionen.

[62]  Green: Aristocracy (wie Anm. NOTEREF _Ref80336262 \h 46), S. 9.




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URL: www.gata-verlag.de/prob93.html; Stand: 03.07.2005 

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