LESEPROBE (Vorwort, Inhaltsverzeichnis, einzelne Ausschnitte - ohne Fußnoten)

Susanne Hecht

"Hauptstr. 117"

Analyse, Entwicklung und Einsatz
unterrichtsbegleitenden Videomaterials
im Fremdsprachenunterricht
für erwachsene Anfänger
 
 
 

Eitorf: gata 1999. 2. Aufl. 2002. 3. Aufl. 2003.
(pädagogik und hermeneutik, 7)



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Vorwort

Zehn Jahre Erfahrung im Deutsch- und Italienischunterricht für Erwachsene lieferten den Anlaß und die Grundlage für die vorliegende Untersuchung. Drei Perspektiven kennzeichnen durchgängig den Gedankengang: 1. die Perspektive der Muttersprachlerin, die - meist sozial benachteiligte - ausländische Erwachsene in extrem heterogenen Gruppen im Land der Zielsprache unterrichtet, 2. die Perspektive der Ausländerin, die tendenziell eher privilegierte Erwachsene im Ausland mit derselben Muttersprache in einer Sprache unterrichtet, die sie selbst nicht vollständig beherrscht, und die `Landeskunde' zu vermitteln hat über ein Land, in dem sie sich nur kurze Zeit aufgehalten hat, und 3. die Perspektive derjenigen, die aufgrund ihrer spezifischen biographischen Daten ständig zwischen extrem voneinander entfernten sozialen Milieus hin- und herspringt und eine entsprechende `Übersetzungstätigkeit' zu leisten hat.

Eine formale Uneinheitlichkeit wurde bewußt gewählt: Es handelt sich um den Gebrauch der männlichen und weiblichen Endungen. Ich sehe gute Gründe für alle Varianten, die mir begegnet sind. Die unterschiedlichen Konventionen wurden deshalb willkürlich parallel benutzt und verlangen dem Leser eine gewisse Flexibilität ab.

Daß diese Untersuchung entstehen konnte, verdanke ich an erster Stelle meiner Mutter, die mir durch die Übernahme eines Teils meiner sozialen Verpflichtungen ungestörte Arbeitsstunden ermöglicht hat, und der Hans-Böckler-Stiftung, durch die die Arbeit finanziert wurde.

Mein Dank gilt ebenso den unzähligen beteiligten Lehrenden und Lernenden, den Personen in Instituten und Institutionen, die bei der Organisation und Durchführung der Feldforschung hilfreich waren, den Beratern und Kooperationspartnern, den Schauspielern, den Musikern, dem Filmstab und allen, die zum Gelingen der Modellfilmproduktion beigetragen haben. Vor allem Jörg Kuglin und Wilfried Dege möchte ich danken, da ohne sie die Filmproduktion nicht zustandegekommen wäre.

Für den guten Rat zum empirischen Teil gilt mein Dank Rüdiger Grotjahn und Undine Roos.

Zu besonderem Dank bin ich Doris Maxsein und Hans-Christian Müller verpflichtet, die die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens übernahmen.

Für die bürotechnische Unterstützung danke ich Kai Motzkau und Walter Hesse.

Einen Dank auch an Michael Kölling, Michael Tobian und Gert Brands für Computer-Pannenhilfe, Videoprints und Layout.

Für seine enorme Disponibilität, sein Vermögen, zuhören zu können, und für viele Anregungen und Ermutigungen im wissenschaftlichen Gespräch danke ich Lutz Götze, der diese Arbeit betreut hat.
 
 


Inhaltsverzeichnis:


Vorwort

Einleitung

1 Worin liegen die filmspezifischen Leistungen
für den Fremdsprachenunterricht?

1.1 Pro und contra Video -
Argumente contra Video

1.1.1 Argumente gegen Video als Unterrichts-
medium für erwachsene Lerner

1.1.1.1 Organisatorisches

1.1.1.2 Inhaltliches

1.1.1.3 Kommentar

1.1.1.3.1 Organisatorisches

1.1.1.3.2 Inhaltliches

1.1.1.3.3 Gegenargumente zum
Argumentationsblock `Inhaltliches'

1.1.1.3.3.1 Der Einfluß des Mediums auf die
Unterrichtsgestaltung

1.1.1.3.3.2 Zu den Eigenschaften des Mediums

1.1.1.3.3.3 Wirkungen auf Lernende

1.1.1.3.3.4 Gesellschaftliche Funktionen

1.1.1.3.3.5 Ergebnisse

1.2 Argumente pro Video

1.2.1 Die Leistungsfähigkeit von Film im
Vergleich zu anderen Medien

1.2.1.1 Hör-Seh-Verstehen als Schreib-,
Sprech- und Denkanlaß

1.2.1.2 Landeskundliche Information im Film

1.2.1.3 Zur Motivationsfunktion von Film

1.2.1.4 Ein Plädoyer für den Einsatz von
Video im Anfängerunterricht

1.2.1.5 Spezifikationen

1.2.1.6 Kommentar

1.2.1.6.1 Ad 1. Erfolgserlebnisse im
Anfängerunterricht

1.2.1.6.2 Ad 2. Nutzung des beliebtesten Mediums

1.2.1.6.3 Ad 3. Serienreiz

1.2.1.6.4 Ad 4. Mögliche Erhöhung der
Gruppenbindung durch intensive
Rezeptionserfahrungen

1.2.1.6.5 Ad 5. Bildorientierung

1.2.1.6.6 Ad 6. Die Ton-Bild-Synchronisation
als mnemotechnische Hilfe

1.2.1.6.6.1 Zum Zusammenhang von Ästhetik und
kognitiven Markierungen

1.2.1.6.6.2 Fazit für Ton-Bild-Synchronisationen

1.2.1.6.7 Ad 7. Lehrwerkintegration

1.2.1.6.8 Ad 8. Zum Realitätseindruck von Filmen

1.2.1.6.8.1 Zusammenfassung

1.2.1.6.9 Ad 9. Emotionale Konditionierung

1.2.1.6.10 Ad 10. Zur Bildvermittlung

1.2.1.6.10.1 Sprachlehrfilm und Meinungsbildung

1.2.1.6.10.1.1 Ad 1. : Der Motivationsgrad

1.2.1.6.10.1.2 Ad 2. : Der Grad der Aufmerksamkeit

1.2.1.6.10.1.3 Ad 3. : Die Qualität des Verständnisses

1.2.1.6.10.1.4 Ad 4. : Der Grad der Akzeptanz

1.2.1.6.10.1.5 Zusammenfassung

1.2.1.6.10.2 Bildvermittlung ­
Ideologie und Dialogizität

1.2.1.6.10.2.1 Ideologie und Indifferenz im
Fernsehsprachkurs Alles Gute

1.2.1.6.10.2.2 Bildvermittlung und
Realitätsorientierung

1.2.1.6.10.2.3 Zum Konflikt zwischen gesell-
schaftlicher Verdrängung und dem
Auftrag, ein realitätsnahes `Bild'
zu vermitteln

1.2.1.6.10.2.4 Auswege aus dem Dilemma zwischen
Ideologie und Indifferenz

1.2.1.6.10.2.5 Die Überschneidung der ideologie-
kritischen Aspekte mit kommunikativen
und interkulturellen Konzepten der
Landeskunde

2 Überlegungen zu einer
Ästhetik des Sprachlehrfilms

2.1 Wie werden Gestaltungsempfehlungen für die
Praxis des didaktischen Films theoretisch
begründet?

2.1.1 Das Saarbrückener Projekt zum
Hörsehverstehen

2.1.2 Die Ton-Bild-Synchronisation

2.2 Traditionelle Gestaltungsvorschläge für den
sprachdidaktischen Film

2.3 Neue Gestaltungsvorschläge für lehrwerk-
begleitende Sprachlehrfilme im Unterricht
für erwachsene Anfänger und
Überlegungen zur praktischen Umsetzung

2.3.1 Prämissen

2.3.2 Das Genre

2.3.2.1 Repräsentativität und Perspektivenvielfalt

2.3.2.2 Die Blickrichtung auf das Private und
Intime

2.3.2.3 Authentizität

2.3.2.4 Der Dokumentarfilm

2.3.2.5 Dramatische Struktur

2.3.2.6 Die Serienerzählung

2.3.2.6.1 Die Lindenstraße als Matrix für eine
Sprachlehrvideoserie für den
Deutschunterricht erwachsener Anfänger

2.3.3 Die Schauplätze

2.3.4 Realitätseindruck und Identifikation

2.3.4.1 Bewegung

2.3.4.2 Die Ton-Bild-Synchronisierung

2.3.4.3 Einstellung und Perspektive

2.3.4.4 Die Schauspieler

2.3.4.4.1 Die Auswahl der Schauspieler

2.3.4.5 Drehbuch und Regie

2.3.5 Ton und Nachsynchronisation

3 Erprobung in der Praxis

3.1 Übersicht über die empirischen Arbeitsschritte

3.2 Empirische Untersuchungen

3.2.1 Zur Methode der Datenerhebung

3.2.1.1 Warum auf physiologische Meßverfahren
der Rezeptionsforschung verzichtet wurde

3.2.2 Beschreibung der Vortests

3.2.2.1 Erster Schritt: Test mit Italienisch-
lernenden in Deutschland

3.2.2.1.1 Erste Präferenzkontrolle

3.2.2.1.2 Zuschauerbefragung

3.2.2.1.3 Zweite Präferenzkontrolle

3.2.2.1.4 Zuschauerbefragung

3.2.2.1.5 Zusammenfassung der Ergebnisse

3.2.2.2 Zweiter Schritt: Filmwirkung im
Sprachunterricht

3.2.2.2.1 Präferenzen

3.3 Hauptstraße 117 ­
ein exemplarischer Sprachlehrfilm

3.3.1 Die Rahmenbedingungen

3.3.2 Die didaktischen Vorgaben

3.3.3 Ästhetische Merkmale des Modellfilms

3.4 Das Forschungsdesign zur
Rezeptionsanalyse von Hauptstraße 117

3.4.1 Expert/inneninterviews

3.4.1.1 Auswahlkriterien für die Orte und Institu-
tionen - Skizzierung der Testgruppen

3.4.1.2 Datenerhebung

3.4.1.3 Der Interviewleitfaden

3.4.1.4 Das Auswertungsverfahren

3.4.1.5 Die Interviewpartner

3.4.1.6 Datenauswertung

3.4.1.6.1 Allgemeine Beurteilungen

3.4.1.6.1.1 Emotionalität als Selbst- und
Fremderfahrung

3.4.1.6.1.2 Vermittlung von Erfolgserlebnissen

3.4.1.6.1.3 Die integrative Wirkung

3.4.1.6.1.4 Kritik

3.4.1.6.2 Auseinandersetzung mit dem Inhalt unter
Berücksichtigung der Lernerperspektiven

3.4.1.6.3 Beschreibung der Filmwirkung im
Zusammenspiel von Medium und
Didaktisierung

3.4.1.6.4 Ergebnisse der Expert/inneninterviews

3.4.2 Die schriftliche Befragung

3.4.2.1 Die Gestaltung des Fragebogens

3.4.2.2 Untersuchte Gruppen

3.4.2.2.1 Erste Gruppe: Muttersprachler

3.4.2.2.2 Zweite und dritte Gruppe:
Lehrende und Lernende

3.4.2.3 Das Auswertungsverfahren

3.4.2.4 Beschreibung der Antworten

3.4.2.4.1 Die standardisierten Fragen

3.4.2.4.2 Die nicht-standardisierten Fragen

3.4.2.4.3 Ergebnisse der offenen Fragen

3.4.2.5 Ergebnisse der schriftlichen Befragung

3.4.3 Unterrichtsbeobachtung

3.4.3.1 Die Videoprotokolle

3.4.3.1.1 Das Auswertungsverfahren

3.4.3.1.2 Datenauswertung

3.4.3.1.3 Ergebnisse

3.4.3.2 Gruppendiskussionen

3.4.3.2.1 Ergebnisse der Gruppendiskussionen

3.4.3.3 Präferenzkontrolle ­
eine dokumentarische Filmreihe und
Hauptstraße 117 im Vergleich

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der zitierten didaktischen Filme

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

________________________________________________

Anhang A1

A1 Filmsequenzen der Lindenstraße, eingesetzt im
Bildungsurlaub für ausländische
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Transkript

A2 Auftrittshäufigkeiten in Hauptstr. 117

A2.1 Die HauptdarstellerInnen in Reihenfolge
ihrer Auftrittshäufigkeit

A2.2 Die Auftrittshäufigkeit der Darsteller/innen
mit Sprechrollen in der Reihenfolge ihres
ersten Auftritts

A3 Abdruck der Einführung in das Begleitmaterial
des Goethe-Instituts zu Hauptstraße 117

A4 Transkript Hauptstraße 117

A5 Anschreiben zum Fragebogen

A6 Fragebogen
 
 








Einleitung

"Die sind so steril. Es geht nur darum, daß bestimmte Worte ausgesprochen werden. Und daherum ist die Situation aufgebaut."

"Das sind keine Menschen. Die sind alle wie Gliederpuppen. Die bewegen sich hölzern und sind dazu da, um bestimmte Worte auszusprechen."

"Nach den wenigen Filmen, die ich kennengelernt habe, war so ein Grauen da, daß ich das den erwachsenen Teilnehmern nicht antun wollte. Die Filme waren einfach zu dumm."1

Ein Deutschlehrer aus Wuppertal verbringt seit Jahrzehnten seinen Urlaub auf den Philippinen als Gast einer einheimischen Sippe. Man verständigt sich mit sehr begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten auf Englisch. Der Kontakt zu den weiblichen Familienmitgliedern beschränkt sich auf eine distanzierte Freundlichkeit. Der Gast erlebt die Frauen ständig lächelnd. Er beobachtet die Entwicklungen der Frauen über die Jahre. Jedesmal, wenn er kommt, eine Veränderung: ein neugeborenes Kind, eine schwangere Frau. Er beobachtet, wie massiv sich die Existenzbedingungen der Familie erschweren. Er sieht die Geschwindigkeit, in der sich die Körper der Frauen verbrauchen. Ihm entgeht nicht die Müdigkeit ihrer Gesichter und Bewegungen, die sich hinter der Maske der freundlichen und aufmerksamen Sanftmut verbirgt. Eines Abends geht er am Strand spazieren und stößt in der Dunkelheit auf die Ehefrau seines Gastgebers. Hätte er sie von weitem gesehen, wäre er abgewichen von seinem Weg, um sie nicht zu stören und sie nicht in eine verfängliche Situation zu bringen. Doch nun sind sie, zufällig und ungewollt, miteinander allein in einem Moment, in dem beide für sich sein wollten. Er erkennt im Dämmerlicht, daß sie weint. Eine tröstende Berührung überschritte die Grenzen der gebotenen Distanz. Er sagt (auf Englisch): Es ist schwer, eine Frau zu sein. All die Schwangerschaften, die Kinder ... . Erstaunt schaut sie ihn lange und ernst an, nickt und sagt: We are friends now, aren't we?2

Drei Statements zu didaktischen Filmen - ein Beispiel für einen gelungenen Verstehensprozeß.

Der Kontrast zwischen als unzulänglich empfundenen und menschliche Kommunikation ad absurdum führenden didaktischen Filmen für erwachsene Anfänger und einem erlebten Beispiel gelungener Kommunikation markiert den Ausgangspunkt und die Zielorientierung der vorliegenden Arbeit.

Das Erlebnis des Lehrers zeigt, wieviel Fremdverstehen, wie sehr das Entdecken des Anderen durch das Ich mit einer einfühlenden Beobachtung zu tun hat. Auch, wie sehr das Verstehen gebunden ist an die Wahrnehmung von Entwicklungen, von Geschichten als Entwicklung eines Individuums und Geschichte als gesellschaftlicher Entwicklung - in unserem Beispiel kann es sich um eine familienspezifische oder um eine normative gesellschaftliche Konvention für die philippinische Frau eines spezifischen Milieus handeln, sich selbst öffentlich keinen Ausdruck zu verleihen.

Ein Mann und eine Frau, kulturell weit voneinander entfernt, haben einen Freundschaftsbund geschlossen. Dieser Bund wurde zum Ausdruck der Befriedigung und Freude, die das Erlebnis des Verstehens und des Verstanden-Werdens auslöste. Das Verstehen konnte sich aus der Beobachtung des konkreten Lebens des Anderen entwickeln. Das Verstehen bedeutete, daß sich die Gedanken und dazu assoziierten Gefühle zweier Menschen eine Zeit lang in einem gewissen Grade gleichsam synchronisierten. Das beiderseitige Entdecken dieser Synchronität ergab sich aus dem Mut und der Fähigkeit des einen, seine Beobachtungen und sein Mitgefühl in Worte zu fassen. Die beiderseitige Bedeutung des Ereignisses konnte entstehen, weil die Frau in der Lage war, sie in Worte zu fassen. So hatte das Ereignis Konsequenzen. Denn es beschränkte sich nicht darauf, daß einer verstand und der andere verstanden wurde, sondern auch der Verstehende wurde in seiner Fähigkeit zu verstehen erkannt und somit ebenfalls verstanden. Beide haben die Situation als einen Moment der Wahrhaftigkeit und Nähe empfunden und für einander bewahren können. Wenig Sprachkenntnisse waren nötig, jedoch eine hohe `kommunikative Kompetenz', deren Bedingung Ausdauer und die Genauigkeit einer einfühlenden Beobachtung waren.

Die Zitate werfen ein Schlaglicht darauf, wie didaktische Filme für den Sprachunterricht erwachsener Anfänger in der Regel konstruiert sind - und was sie eigentlich leisten könnten.

Denn es sind die spezifischen Eigenschaften des Films, die Bedingung einer genauen und einfühlenden Beobachtung von Entwicklungen ohne große Worte herstellen und ins Klassenzimmer beziehungsweise zum lernenden Individuum bringen zu können.

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich damit, die Potentiale des filmischen Mediums im Sprachunterricht für die Zielgruppe erwachsener Anfänger herauszufiltern und sie durch die Entwicklung normativer Kriterien reproduzierbar zu machen. Die Studie setzt sich zum Ziel, Ansätze einer Theorie des Sprachlehrfilms für den Anfängerunterricht Erwachsener zu entwickeln. Das Anliegen, inhaltliche und ästhetische Maßstäbe zu finden, die die Güte filmischen Unterrichtsmaterials beschreibbar machen, lenkt die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf ein bislang weitgehend unberücksichtigtes Terrain.

Im Auftrag des Auswärtigen Amtes wurde1966 der erste deutsche Sprachlehrfilm Guten Tag vom Goethe-Institut und dem Bayrischem Rundfunk produziert. Die Verbindung von politischen Interessen und Didaktik als eine der Rahmenbedingungen sprachdidaktischer Filme wird in diesem Produktionsarrangement sichtbar. Eine Rezeptionsanalyse zu diesem ersten und den folgenden Sprachlehrfilmen liegt nicht vor. Der Autor Rudolf Schneider berichtete Ende der sechziger Jahre von den Erfahrungen mit seinem Film. Die Überschriften lauteten etwa: "Der Fernsehfilm `Guten Tag'. Film und Fernsehen im Dienst der Sprachpolitik." oder "`Guten Tag'. Konzeption, Bewährung und Bewältigung des Sprachfilms." Die Titel verweisen inhaltlich wie stilistisch auf den politischen Interessen untergeordneten Status des Mediums. Seine spezifischen Leistungen für einen kommunikativen Unterricht, für einen Verstehens- und Verständigungsprozeß standen damals nicht im Mittelpunkt des Interesses. Eine systematische und vielperspektivische Auseinandersetzung damit, welche inhaltlichen und ästhetischen Kriterien Sprachlehrfilme unter Berücksichtigung des komplexen und spezifischen Wirkungsgefüges erfüllen sollten, das den Anfängerunterricht in der Erwachsenenbildung und das Lernen Erwachsener charakterisiert, gibt es bislang nicht.3 Ganz im Gegenteil richtet sich das gegenwärtige Forschungsinteresse auf den Einsatz sogenannter `authentischer' Filme, die für den muttersprachlichen Markt produziert werden, da didaktische Filme sich bislang nicht als Unterrichtsbereicherung bewährt haben. Doch Anfänger können von in diesem Sinne `authentischem' Material wenig profitieren. Es galt daher, neue Beurteilungskategorien für sprachdidaktische Filme herzustellen. Gewiß werden sich Modifikationen, Korrekturen, Präzisierungen und Ergänzungen als notwendig erweisen. Erstmals wird jedoch ein Entwurf zur Diskussion gestellt, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Gestaltungsrichtlinien für Sprachlehrfilme für erwachsene Anfänger so präzise zu fassen, daß sie die Qualität ihres Gegenstandes positiv beeinflussen können.

Eine sprachdidaktische Prämisse der Studie liegt in der Akzeptanz des Sprachunterrichts als Training `kommunikativer Kompetenz'.

Die exklusive Auseinandersetzung mit dem Medium Film im Anfängerunterricht soll zeigen, daß Film Gruppenunterricht auf eine einzigartige Weise sinnvoll ergänzen kann. Sie soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kommunikation von Mensch zu Mensch im Mittelpunkt des Spracherwerbsprozesses steht. Durch den Einsatz von Film soll sie gefördert, nicht etwa ersetzt werden.

Die Struktur der Arbeit

Die vorliegende Untersuchung verdankt ihr Entstehen einem praktischen Defizit: dem Mangel an brauchbarem didaktischen Filmmaterial für den Sprachunterricht erwachsener Anfänger. Ihr handlungswissenschaftliches4 Anliegen: Sie will helfen, die Qualität der didaktischen Filmmaterialien zu verbessern.

Dazu versucht sie, folgende zentrale Fragen zu beantworten:

· Welche Funktionen kann das Medium Film im Anfängerunterricht erfüllen, die durch kein anderes, wirtschaftlicheres Medium ersetzbar sind?

· Warum ist audiovisuelles Unterrichtsmaterial gerade für erwachsene Anfänger wichtig?

· Welche didaktischen Rahmenbedingungen prägen die filmische Form?

· Wie müssen Filme gestaltet sein, wenn das Wirkungspotential des Mediums für den Sprachunterricht ausgeschöpft werden soll?

· Wie lassen sich Gütekriterien für entsprechende didaktische Filme beschreiben?

Die Zielgruppe, die dem Gedankengang virtuell als überprüfende Instanz zugrundeliegt, ließe sich durch eine fiktive didaktische Situation beschreiben:

Eine nicht-muttersprachliche Lehrperson unterrichtet im Ausland eine bunt gemischte Gruppe Deutschlernender, verschieden hinsichtlich Motivation, Bildungsstand, Lebenserfahrungen, sozialer Stellung, Alter, Geschlecht etc. Die Lerngruppe repräsentiert das soziale Spektrum ihres Landes.

Ein utopisches Szenario. Doch die Berücksichtigung dieser Utopie soll helfen, eine didaktische Annäherung an alle erwachsenen Personen zu erreichen, die den Wunsch haben, eine Fremdsprache zu lernen. Ob das Weiterbildungsbedürfnis Erwachsener aller Schichten politisch eingelöst wird, ist eine andere Frage. Lehrmedien, die nicht für kleine, spezielle Zielgruppen konzipiert werden, dürfen nicht von vornherein die Interessen einer potentiellen, zahlenmäßig dominanten Klientel unberücksichtigt lassen, nur weil dieser der Zugang zur Weiterbildung häufig verwehrt ist. Zu bedenken ist zudem, daß die virtuelle Lernerschaft nicht unrealistisch ist: denn die für einen lehrerbegleiteten Unterricht grundlegenden Resultate gelten auch für einen kostenlosen - etwa televisiven - Fernunterricht, der vielen zugänglich ist, die - in der Regel aus finanziellen Gründen - aus sonstigen Erwachsenenbildungsangeboten ausgeschlossen sind. Der Fernunterricht benötigt über den hier thematisierten Gegenstand hinaus zusätzliche Überlegungen, wie man die Funktion von Lehrer und Lerngruppe im filmischen Surrogat behelfsmäßig wahren oder ersetzen kann. Die Fragen der medienspezifischen Leistungen von Film für Sprachunterricht, die hier im Mittelpunkt des Interesses stehen, gelten gleichermaßen für den Fernunterricht, tangieren die zusätzlichen Überlegungen zur Surrogatfunktion von Fern- oder Fernsehunterricht jedoch nicht weiter. Sie bleiben in dieser Studie unberücksichtigt.

Anwendungsbezogene Theorien zum Einsatz audiovisueller Medien im Unterricht müssen das komplexe Wirkungsgefüge zwischen Lernenden, Lehrenden, dem Unterrichtsgegenstand, der Unterrichtssituation, den didaktischen Notwendigkeiten und dem Medium `Film' möglichst facettenreich und vielperspektivisch berücksichtigen. Ihr Ansatz ist notwendig interdisziplinär. Darin liegt die erste Schwierigkeit. Denn handhabbare Reduktionen erreichen ihre wissenschaftliche Akzeptanz allzu oft auf Kosten der praktischen Relevanz.5 In diesem Dilemma entscheidet sich die vorliegende Untersuchung zugunsten der Praxis für eine komplexe Betrachtungsweise, die ohne eklektische Methoden nicht auskommen kann. Die Entscheidung legitimiert sich sowohl aus dem diskussionsinitiierenden Charakter der Studie als auch aus ihrer selbstüberprüfenden Struktur, die mittels eines hermeneutischen Zirkels ihre theoretischen Vorannahmen über Wirkungsmöglichkeiten von spezifisch gestaltetem Film im Unterricht in ein praktisches Modell umsetzt, das sie in einer Wirkungsstudie im Rahmen ihrer Möglichkeiten empirisch überprüft. Die Wahl dieser Vorgehensweise rechtfertigt sich zudem aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Forschungen zur Wirkungsweise sprachdidaktischer Filme. Der hermeneutische Zirkel wird hier deshalb in besonderer Weise wirksam und als Methode ausgewiesen, die eine normativ-theoretische und eine empirische, explorativ-interpretative Vorgehensweise zusammenwirken läßt, weil die Vorannahmen nicht systemimmanent überprüft werden. Eine immanente Überprüfung führt häufig zu in sich stimmigen Schlüssen, die jedoch einer Überprüfung in der Praxis, also außerhalb des theoretischen Gebäudes, nicht unbedingt standhalten müssen. Die Überprüfungsgrundlage liefert im vorliegenden Fall die Anwendung der Theorie auf die Filmpraxis, da das auf dem Markt vorhandene Material die postulierten Kriterien nicht erfüllte. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, die Vorannahmen zur Filmwirkung im Unterricht empirisch zu verifizieren beziehungsweise zu falsifizieren und entsprechend zu korrigieren. Die Methodentriangulation, die im empirischen Teil vorgenommen wurde, legt ihr Hauptgewicht auf explorativ-interpretative Methoden, schließt jedoch standardisierte, hypothesenüberprüfende Verfahren mit ein. Der Autorin war daran gelegen, in der Wirkungsanalyse des empirischen Teils den betroffenen Lernenden und Lehrenden das Wort zu geben. Die gemeinsame Schnittmenge aus einer theoretischen und einer empirischen Hypothesenbildung auf der Basis explorativ-interpretativer Methoden, die durch Offenheit und Kommunikation gekennzeichnet sind, bildete das endgültige theoretische Gerüst für die Gestaltungskriterien von Sprachlehrfilmen für erwachsene Anfänger.6

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Abbildung 1: Zirkelprozeß der Untersuchung

Das Diagramm mit seinen verschachtelten Kreisen und dem unausgefüllten Mittelpunkt verweist auf den offenen Prozeßcharakter der Studie. Das leere Zentrum symbolisiert zudem die zweite grundlegende Schwierigkeit der Forschungsarbeit: Die Methoden zur Untersuchung von Filmwirkungen befinden sich selbst noch in einem Entwicklungsstadium. Zum Teil sind sie derart aufwendig, daß sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht durchgeführt werden konnten. Die hier versuchten Wirkungsanalysen mit rund 1000 Probanden vermögen die theoretischen Aussagen daher nur teilweise zu überprüfen. Sie liefern eine legitime Diskussionsgrundlage für eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung. Die Eindeutigkeit einiger Resultate bestätigt einige theoretische Annahmen hinreichend, so daß die Ergebnisse praktisch umgesetzt werden können.

Der Theoriebildungsprozeß beruft sich vornehmlich auf Erkenntnisse und Erklärungszusammenhänge aus der Fremdsprachendidaktik, der pädagogischen Psychologie, der Medienwirkungsforschung, der Landeskunde (Kultur-und Landeswissenschaften) und der Filmsemiotik. Die Übernahme von Ergebnissen der Hilfswissenschaften wird jeweils auf ihre Übertragbarkeit auf die Zielgruppe und die Unterrichtssituation hin überprüft.

Die Darstellungsweise zielt darauf hin, daß die innere Dynamik des Theoriebildungsprozesses zum Ausdruck kommt. Innerhalb der ersten beiden von vier Leitfragen, die in einem konsekutiven Verhältnis zueinander stehen, ist die Dramaturgie der Darstellung deshalb jeweils antithetisch aufgebaut.

1. Die erste Leitfrage lautet: Worin liegen die filmspezifischen Leistungen für den Fremdsprachenunterricht unter besonderer Berücksichtigung erwachsener Anfänger?

2. Die zweite fragt nach den Kriterien für eine Gestaltung von Filmmaterial für den Anfängerunterricht Erwachsener.

3. Die dritte heißt: Können die Kriterien praktisch umgesetzt werden, oder scheitern sie an den Rahmenbedingungen der Realität?

4. Und viertens: Auf welche Weise läßt sich die Filmwirkung unter Berücksichtigung der Lernerperspektive empirisch ermitteln? Wie verhalten sich die empirischen Befunde zu den theoretischen Annahmen?

Unter der ersten Leitfrage gibt eine Sammlung von Argumenten gegen Video im Unterricht allgemein und speziell für Anfänger den Impuls, kontrastiv die medienspezifischen Leistungen von Film im Sprachunterricht allgemein und speziell für Anfänger herauszuarbeiten. Der zunächst grobe, rahmenbildende Blick liefert eine Basis für die Aufstellung von 10 Thesen zur möglichen Leistungsfähigkeit des Mediums. Diese Thesen strukturieren die weitere Entwicklung des Argumentationsaufbaus. Einige der Thesen verstehen sich vor dem Hintergrund der allgemeinen Argumente von selbst, andere sind erläuterungsbedürftig und werden kapitelweise begründet.

Auf der Grundlage dieses ersten großen Argumentationsblocks entstehen die Überlegungen zu einer kleinen `Ästhetik des Sprachlehrfilms' für die beschriebene Zielgruppe. Damit sind wir bei der zweiten Leitfrage. Wieder begründet eine kontrastive Abgrenzung die Argumentationsentwicklung. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem empirischen Saarbrückener Projekt zum Hörverstehen legitimiert die zunächst gelegentlich assertorisch anmutende Theorieentwicklung, die sich im nachhinein erst empirisch bestätigt. Die Darstellung traditioneller Gestaltungsvorschläge für den sprachdidaktischen Film fungiert als Antrieb für die Gegendarstellung, die Bildung einer eigenen Ästhetik.

Die Entwicklung der Gütekriterien zur filmischen Gestaltung war an dieser Stelle nötig, um zu klären, an welchem Prüfstein sich der Modellfilm orientiert. Sie steht nicht am Ende der Untersuchung, sondern in ihrer Mitte, der Chronologie der Durchführung folgend. Auf diese Weise konnte das Design der Wirkungsforschung, die den zweiten Argumentationsblock darstellt, nachvollziehbar begründet werden. Die Rezeptionsanalyse untersucht im Rahmen ihrer Möglichkeiten einerseits die noch nicht verifizierten Annahmen zur filmischen Gestaltung empirisch, andererseits fügt sie theoretisch unberücksichtigte Phänomene in die Theorie ein.

Vor der Erstellung des Modellfilms wurden erste indikative praktische Bestätigungen für die Vorannahmen gefunden. Marktübliches audiovisuelles Material wurde 73 Lernenden in fünf Unterrichtsversuchen zum Vergleich vorgestellt, so daß erste Anhaltspunkte dafür gewonnen werden konnten, auf welche filmischen Qualitäten Lernende wie reagieren. Diese Vortests eröffnen den Block der empirischen Darstellungen.

Der Modellfilm selbst kann als das Herzstück der Studie gelten. Er ist die praktische Antwort auf die dritte Frage. Es ist sinnvoll, ihn nach der theoretischen Auseinandersetzung anzuschauen. Allerdings existiert in praxi bislang lediglich die erste Variante, die sich durch die empirischen Erfahrungen als modifizierungsbedürftig erwies. Die Veränderungen am Film wurden als Ergebnis der Analyse der Experteninterviews erläutert. Ihre praktische Umsetzung ist bislang einzig auf dem Papier nachvollziehbar. Im Anhang findet sich ein knappes Filmtranskript, das die notwendigen Korrekturen integriert, allerdings als praktisch noch nicht vollzogene und damit auch noch nicht überprüfbare ausweist.

Die Wirkungsanalyse des Modellfilms bezog Unterrichtsbeobachtungen, Gruppendiskussionen, schriftliche Befragungen und Experteninterviews in insgesamt 54 Unterrichtsversuchen in fünf Ländern mit 753 Lernenden aus über 30 Regionen der Welt ein. Hinzu kamen Präsentationen vor und Befragungen von 98 native speakers und 82 Deutschlehrenden.

Das Ergebnis der Rezeptionsanalyse bestätigt die unterrichtspraktisch orientierte Publikation von Inge Christine Schwerdtfeger (1989) zur Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache: Im Zentrum von Lernen und Kommunikation stehen Emotionen, die an beschreibbare Inhalte und Formen gekoppelt sind. Deren Priorität trägt sprachdidaktische Literatur allzu oft nicht in gebührendem Maße Rechnung. Eine anwendungsbezogene Theorie darf diesen nur schwer zu fassenden Gegenstand nicht umgehen. Hier wird ein Versuch unternommen.
 
 


[...]







Erprobung in der Praxis

3.1 Übersicht über die empirischen Arbeitsschritte

A. Vortests

1. Befragung Italienisch-Lernender auf der Basis von
Präsentationen vorhandenen Videomaterials:

Wo liegen Präferenzen? Was interessiert?

· Fragebogen

· Präferenzkontrolle

2. Vergleichende Unterrichtsversuche mit der Lindenstraße und einem didaktischen Video

· Teilnehmende Beobachtung

· Offene Befragung

· Präferenzkontrolle

B. Modellfilmproduktion

C. Wirkungsanalyse des Modellfilms

1. Unterrichtsversuche in Essen, Frankfurt, Gummersbach, Rothenburg ob der Tauber, Velbert, Mailand, Bologna, Reggiolo (I), Toulouse, Rio de Janeiro

· Expert/inneninterviews

2. Test mit gemischtem muttersprachlichen Publikum in Wuppertal

· Fragebogen

3. Filmpräsentation für Deutschlehrer/innen in Buenos Aires und Rio de Janeiro

· Fragebogen

4. Unterrichtsversuche in Brasilien, Italien und Deutschland

· Fragebogen

· Teilnehmende Beobachtung

· Audiovisuell unterstützte Beobachtung

· Gruppendiskussionen

· Präferenzkontrolle im Unterrichtsvergleich

3.2 Empirische Untersuchungen

Die vorangegangenen theoretischen Überlegungen und praktischen Gestaltungsvorschläge gingen aus Erfahrungswerten hervor und wurden durch empirische Untersuchungen überprüft.

In einem ersten empirischen Schritt, der den Stellenwert eines Vortests besitzt, wurden Hinweise auf grundlegende Lernerbedürfnisse anhand von Rezeptionsuntersuchungen mit didaktischem und für den deutschsprachigen Unterhaltungsmarkt produzierten Videomaterial gewonnen. Die zweite Forschungsphase, angelegt als explorativ-interpretative Pilotstudie377 zur Untersuchung der Wirkungen des Modellfilms im Unterricht, liefert Datenmaterial, das einige Thesen der theoretischen Argumentation untermauert. Drei Schritte kennzeichnen die empirische Vorgehensweise:

1. Als Vortest wurden Präferenzbefragungen in Unterrichtsversuchen mit marktüblichem Videomaterial durchgeführt. Die Tests in 5 Lerngruppen mit 73 Lernenden dienten der Hypothesenbildung.

2. Eine exemplarische Videoserie wurde produziert, die die theoretisch gewonnenen Kriterien so weit wie möglich berücksichtigt.

3. Eine Wirkungsanalyse des Modellvideos nach Unterrichtsversuchen in 54 Lerngruppen mit 753 Lernenden aus aller Welt und Tests mit 82 Lehrpersonen und angehenden Deutschlehrer/innen sowie 98 native speakers gab Aufschluß darüber, was den deutschlernenden Rezipienten wichtig war und welche theoretischen Schlüsse sich daraus ziehen lassen.

Die empirische Studie zeichnet sich durch einen Methodenverbund von audiovisuell unterstützter teilnehmender Beobachtung, Gruppendiskussionen, Experteninterviews und offenen und standardisierten schriftlichen Befragungen aus. `Quantitative', nach Mengen vergleichbare Daten liefern lediglich die standardisierten Befragungen.

Messungen, die die Wirkung unterschiedlich konzipierter Filme auf die Langzeitspeicherung quantitativ vergleichbar machen könnten, wurden aus folgenden Gründen nicht vorgenommen:

Nennenswerte Memorierungsprobleme tauchen bei deutschlernenden Erwachsenen im Ausland häufig erst dann auf, wenn umfangreicheres Sprachmaterial behalten werden muß, als es die Modellserie bietet. Deshalb könnten die Einflüsse der Serie auf die Behaltensleistung im Anfangsunterricht nicht zuverlässig ermittelt werden.

Theoretisch wären Messungen der Behaltensleistung auf einem etwas höheren Niveau möglich, indem die Modellserie im Unterricht mit einem erweiterten Textkorpus verknüpft würde. Eine vergleichbare Verknüpfung mit Filmen, die die hier entwickelten Kriterien nicht berücksichtigen, müßte in Kontrollgruppen vorgenommen werden.

Um die Validität der einzelnen Kriterien zu ermitteln, müßten Filme vorliegen, die jeweils einzelne Variablen eliminieren.

Zur Kontrolle wäre auch eine Leistungsmessung in einer Lerngruppe nötig, die ohne audiovisuelle Unterstützung arbeitet.

Die Tests mit einem typischen heterogenen Erwachsenenpublikum (keine Studenten!) unter typischen Rahmenbedingungen müßten zum Nachweis der Allgemeingültigkeit der Ergebnisse in unterschiedlichen kulturellen Regionen stattfinden und die Unterrichtsreihen - es handelt sich bei jedem einzelnen Unterrichtsversuch immerhin um eine Langzeitstudie - müßten organisiert und finanziert werden.

Um kontaminierende Effekte weitestgehend auszuschließen, müßten die einzelnen Versuche bezüglich der Lehrmethoden und der Lehrerpersönlichkeiten vergleichbar sein, und die Lehrenden müßten jeweils gleichermaßen von dem zu testenden Unterrichtsfilm überzeugt sein. Mindestens eine weitere Person müßte die Unterrichtsversuche beobachten, um unkalkulierbare Einflüsse feststellen zu können.

Diese notwendigen Bedingungen für die Validität von Leistungsmessungen, deren unterschiedliche Resultate auf die Filmeinflüsse zurückgeführt werden können, sind nicht allein aus Kostengründen in der Realität nicht herzustellen. Die Schwierigkeit eines analytisch-nomologischen Ansatzes, der die Wirkungsursachen quantitativ erforschen und eindeutig nachweisen will, wurde bei der Kritik am Saarbrückener Projekt deutlich.

Die theoretisch entwickelte These, daß die zu vermittelnden sprachlichen Strukuren besser behalten werden, wenn sie mit einem lebensrelevanten und ästhetisch komponierten bildsemiotischen Kontext verknüpft werden, konnte daher nicht empirisch `bewiesen' werden. Wir sind deshalb auf indirekte Schlüsse und qualitative Verfahren angewiesen. Deshalb wurde die Filmwirkung in einem explorativ-interpretativen Verfahren überprüft.

Die Datengewinnung verlief als allmählicher Erkenntnisprozeß aus unterschiedlichen Perspektiven mit vielfältigen Methoden, weil ein möglichst holistischer Zugang zum Erkenntnisgegenstand dem komplexen Rezeptionszusammenhang am ehesten gerecht werden kann. Repräsentative Ergebnisse liefern die im folgenden beschriebenen Verfahren nicht. Sie bieten vielmehr unterschiedliche Indizien aus der Praxis, aus denen die theoretischen Abstraktionen abgeleitet und wiederum in Praxis umgesetzt wurden, aus der abermals Erfahrungswissen als Grundlage der erneuten Theoriebildung entstand. Die empirischen Befunde machen Tendenzen sichtbar, sie lassen jedoch keine Gesetzmäßigkeiten formulieren.

In dieser allmählichen Entwicklung einer theoretischen Grundlage des Sprachlehrfilms liegt der Versuch, sich ein möglichst `objektives' und valides Urteil zu erschließen. Der Objektivitätsbegriff ist relativ zu verstehen. "Es gibt hier keine andere 'Objektivität' als die Bewährung, die eine Vormeinung durch ihre Ausarbeitung findet. Was kennzeichnet die Beliebigkeit sachunangemessener Vormeinungen anders, als daß sie in der Durchführung zunichte werden?"378 Dabei wurde in der polymethodologischen Anlage des empirischen Forschungsaufbaus in besonderem Maße berücksichtigt, daß nicht die a priori bestimmten Kategorien das Design charakterisierten379, sondern offene, kommunikative Methoden nicht antizipierte Ergebnisse zuließen.

Diese hermeneutisch-qualitative, polymethodologische Vorgehensweise wurde gewählt, da streng objektive, analytisch-nomologische empirische Verfahren, die das komplexe Unterrichtsgeschehen bewerten möchten, über Standardisierung und Kontrolle die Kriterien der Reliabilität und Reproduzierbarkeit zwar erhöhen, die Qualität und Aussagekraft der erhobenen Daten jedoch in vielen Fällen reduzieren. Zudem können sie lediglich Bestehendes bewerten, kaum jedoch neue Möglichkeiten ausloten.

Daß es mir 1992 möglich war, die Theorie praktisch umzusetzen und so empirisch überprüfen zu können, ist ein Glücksfall, der aufgrund fiskaler Entscheidungen in der BRD schon ein Jahr später nicht mehr realisierbar gewesen wäre.

3.2.1 Zur Methode der Datenerhebung

Die Rezeptionsforschung zum Modellfilm erweist sich im vorliegenden Versuch als besonders problematisch, soll sie doch Aufschluß über einen theoretischen Ansatz geben, den die Forscherin selbst entwickelt und in ein praktisches Beispiel umgesetzt hat. Das Problem der Befangenheit, das sich gleichwohl bei jedem Forschungsprojekt, bei diesem jedoch in besonderem Maße stellt, sollte vor allem durch drei Faktoren relativiert werden:

· die Kombination verschiedener Datenerhebungsmethoden

· die Erhebung von Daten aus unterschiedlichen Perspektiven

· die Kenntlichmachung der interessierten Forscherperspektive

So wurde a priori bewußt der Versuch unterlassen, traditionellen Gütekriterien empirischer Forschung wie Objektivität380 und Reliabilität bzw. den quantitativen Aspekten der Repräsentativität, der Generalisierbarkeit, Standardisierbarkeit und Meßbarkeit nachzueifern.

An die Stelle des Wahrheitsanspruchs einer analytisch-nomologischen Methodologie rücken hier Glaubwürdigkeit und argumentative und interpretative Plausibilität, an die Stelle der Standardisierbarkeit Erkennbarkeit und Nachvollziehbarkeit.381

Als anwendungsbezogene und die Rezeption angewandter Theorie untersuchende Studie fordert sie die kritische Haltung eines praxisbezogenen Lesens ein. Das Kriterium der Erkennbarkeit soll den Bezug der Studie zur Unterrichtsrealität des jeweiligen Nutzers der Daten gewährleisten.382 Die Kriterien der Offenheit und Kommunikation, die Grotjahn einfordert, wurden "als notwendige Bedingung zur Erreichung einer zufriedenstellenden Validität" 383 beachtet.

Drei grundlegende, von Huschke-Rhein entwickelte Gütekriterien sollten erfüllt werden:

1. Realitätsgehalt (mit: Sozialkontext),

2. Transparenz (Forscher: `Saubere' methodische Arbeit),

3. Praxisrelevanz (Bedeutung für Praxis und Praktiker).384

Der empirische Untersuchungsteil ist als eine Ergänzung zu den theoretischen Überlegungen zu betrachten und, wie oben beschrieben, als Teil eines hermeneutischen Zirkels zu lesen.

Folgende Überlegungen wurden beim vorliegenden Forschungsdesign einbezogen:

Brügelmann schlägt vier Apekte vor, die Studien im Grenzbereich zwischen `wissenschaftlichen' und `natürlichen' Erkenntnisprozessen berücksichtigen sollten:

"(1) Kombination unterschiedlicher Methoden (...)

(2) Vielfalt konkurrierender Perspektiven (...)

(3) Darstellung des Situationsbezugs (...)

(4) Streuung von Fällen (...)"385

Im vorliegenden Fall wurde ein besonderer Wert auf die Methodentriangulierung, die Verwendung verschiedener Methoden, gelegt, um mögliche Fehlerquellen zu neutralisieren.386

Die empirische Vorgehensweise orientierte sich, wenn möglich, an den Lernenden und den Lehrenden als Bezugspunkte der Strukturierung.

"Ganz grob lassen sich drei Bezugspunkte der Strukturierung ausmachen: der Forscher mit seinem Forschungsinteresse, das (die) Subjekt(e), an dem (denen) er dies untersucht, und ihre Sichtweise sowie die Situation, in der er dies untersucht bzw. in die er die Subjekte und ihre Handlungen eingebettet sieht."387

Um die Gefahr der Voreingenommenheit möglichst zu begrenzen, erhielt die Strukturierung der Vorgehensweise durch die Lernenden als Subjekte wie auch durch das Subjekt und die Situation ein besonderes Gewicht.

Flick meint zur Strukturierung durch das Subjekt:

"Dieses Ziel wird etwa im narrativen Interview (...) über weite Strecken zu realisieren versucht. Dabei gibt der Forscher ein Thema vor und beschränkt sich im Hauptteil des Interviews darauf, das Subjekt über eine Erzählaufforderung zum Sprechen (hier: Erzählen) zu bringen. Die zentrale Aufgabe des Forschers besteht in dieser Phase darin, den Fluß der Erzählung möglichst wenig zu stören oder zu behindern."388

Die Experteninterviews, die das Kernstück der empirischen Datenerhebung bilden, orientierten sich in ihrer Durchführung an der Offenheit narrativer Interviews.

Die Strukturierung durch Situation und Subjekt kann durch Gruppendiskussionen realisiert werden:

"Dies wird durch bestimmte Formen der Gruppendiskussion (...) zu erreichen versucht. Deren spezifisches Potential im Vergleich zu qualitativen Interviews wird einerseits darin gesehen, daß sich die beteiligten Subjekte durch den Diskussionsprozeß und seine Dynamik zu Äußerungen `hinreißen' lassen, die sie einem Forscher gegenüber kontrolliert und auch unterdrückt hätten."389

Bei der in diesem Fall besonderen Problemsituation des Forscherinteresses erhielten die durch die Forscherin oder eine Lehrperson indirekt eingeleiteten Gruppendiskussionen, die nach abgeschlossener Filmrezeption durchgeführt wurden, als Gegenstand der Beobachtung einen besonderen qualitativen Stellenwert.

3.2.1.1 Warum auf physiologische Meßverfahren der Rezeptionsforschung verzichtet wurde

Die klassische sozialwissenschaftliche Wirkungsforschung, wie sie hier vorliegt, ermittelt vorwiegend bewußte und damit verbal artikulierbare Eindrücke, Einstellungen, Interessen und Erinnerungen und ergänzt sie durch ethologisch gestützte Verhaltensbeobachtungen.390 Aus gutem Grund fordert die Wirkungsmikroskopie eine Vervollständigung dieser Methoden vor allem durch psychophysiologische Erhebungsmethoden. Sie setzt sich zum Ziel, Gehirnprozesse, die im Erleben und Verhalten des Menschen nicht unmittelbar sichtbar werden, zu erfassen. So können unbewußte Reaktionen angemessener analysiert und besser in Erklärungszusammenhänge der Wirkungsforschung integriert werden.

Mit dem sogenannten `Lügendetektor'391 und dem Elektroencephalogramm (EEG)392 stehen zwei Meßinstrumente zur Untersuchung sogenannter autonomer bzw. zentralnervöser Reaktionen393 zur Verfügung.

Der Vorteil dieser Erhebungsinstrumente liegt darin, daß sie eine Aussage über die Intensität neuronaler Prozesse liefern können. Ihr Nachteil: Sie lassen keine qualitativen Aussagen über Emotionen zu.394 Eine Verbindung physiologischer Befunde über die Intensität von Erregungen mit Erlebnisaussagen und Verhaltensbeobachtungen, die Schlüsse auf die Qualität von Emotionen zulassen, ist wünschenswert. Widersprüchliche Befunde wie im Saarbrückener Projekt können auf diese Weise vermutlich geklärt werden. Denn gleichlautende qualitative Aussagen unterschiedlicher Individuen über ihre Rezeptionsweise von Filmen geben keinen verläßlichen Aufschluß darüber, welche Intensität die Wirkung hatte und wie sich der Faktor Intensität auf die Langzeitspeicherung auswirkt.

Durch die Erhebung von Intensitäts-Mittelwerten könnte möglicherweise tatsächlich ein objektiver Maßstab für die Bewertung der Tauglichkeit einzelner Sprachlehrfilme gewonnen werden. Die Herstellung dieses Maßstabs bedürfte jedoch eines erheblichen experimentellen Aufwands.

Bei der vorliegenden Studie war die Anwendung physiologischer Meßmethoden aus folgenden Gründen nicht möglich:

· Zum einen wären die an mehr oder weniger komplizierte Apparaturen gebundenen Verfahren im Rahmen einer explorativen Studie im Feld nicht durchzuführen gewesen.

· Zudem hätten sie einen weiteren enormen organisatorischen und finanziellen Aufwand verursacht, der im vorgegebenen Rahmen nicht zu leisten war.

Eine nachträgliche physiologische Untersuchung mit ausgewählten Probanden ließe in Verbindung mit den qualitativ ermittelten Daten möglicherweise Generalisierungsaussagen zu, die in dieser Studie nicht erbracht werden können.

Im folgenden werden die empirischen Untersuchungen in ihrer Prozeßhaftigkeit chronologisch und/oder ergebnisorientiert beschrieben.

A. Vortests

3.2.2 Beschreibung der Vortests

Die Vortests dienten vor allem zur Hypothesenbildung und zur Verifizierung bzw. Modifizierung bereits vorhandener theoretischer Annahmen. In zwei Schritten wurden Indizien dafür gewonnen:

1. Schritt: Drei Gruppen Italienischlernender wurden unterschiedliche Typen von Sprachlehrvideos vorgestellt, die die Lernenden beurteilen sollten.

2. Schritt: In einem Unterrichtsversuch mit 40 Unterrichtsstunden mit leicht fortgeschrittenen Lernenden wurde ein im klassischen Sinne authentisches Viedomaterial aus dem deutschen Unterhaltungsfernsehen eingesetzt, das den zuvor entwickelten inhaltlichen und zum Teil auch ästhetischen Kriterien weitgehend entspricht. In einer Kontrollgruppe wurden zwei Typen didaktischen Videomaterials eingesetzt. Nach Abschluß der Unterrichtsversuche erfolgte eine vergleichende Präferenzbefragung.

3.2.2.1 Erster Schritt: Test mit Italienischlernenden in Deutschland

Das Befragungsverfahren orientierte sich an zwei Erkenntniszielen:

1. Aus der Sicht der Pragmadidaktik interessiert die (offen zu gestaltende) Frage: Welche Sehwünsche und -gewohnheiten haben Lernende außerhalb des Fremdsprachenunterrichts?

2. Die Testpersonen sollten durch die Konfrontation mit Sprachlehrfilmen die Gelegenheit erhalten, ihre Präferenzen zu äußern. In diesem Teil stellte sich das Problem des reduzierten Anschauungsmaterials, das die Möglichkeiten des Mediums im Anfängerunterricht bislang nicht ausschöpft. Die Frage lautete daher: Wie begründen die Lernenden ihre Präferenzen?

Die Kombination der Fragen erbrachte deutliche Hinweise auf gestalterische und inhaltliche Vorlieben der Teilnehmenden.

Bei der Zielgruppenbefragung war von Bedeutung, daß die Fremdsprache nicht im Land der Zielsprache gelernt wurde. Denn es ging bei der Fragestellung auch um die Brückenfunktion, die Video im Unterricht erfüllen kann.

Die Testgruppe:

Drei Gruppen deutschsprachiger Italienisch-Lernender des ersten, dritten und vierten Lernjahres der Essener Volkshochschule mit 19, 12 und 15 Teilnehmern stellten sich am 26.11.1991 und am 4.12.1991 für eine Befragung und einen Test zur Verfügung.

Die Lernenden waren zwischen 24 und 65 Jahren alt. Das Durchschnittsalter lag bei 42 Jahren. Die Teilnehmer hatten zum größten Teil keine Erfahrungen mit Sprachlehrfilmen.
 

Die Testpersonen wurden zunächst schriftlich befragt.

Frage:

Was ist die wichtigste Eigenschaft, die ein guter Film für Sie besitzen muß?

Antwort:

Für alle Personen bis auf eine war das Spannungs- beziehungsweise Unterhaltungselement das wichtigste.

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Abbildung 4: Die wichtigste Eigenschaft eines Films

Die Antworten variierten leicht: "spannend", "darf mich nicht langweilen", "darf nicht langatmig sein", "muß mich fesseln". Eine Antwort lautete: "informativ", bei fünf Antworten wurden Unterhaltungswert und Informationswert kombiniert genannt.

3.2.2.1.1 Erste Präferenzkontrolle

Den Testgruppen wurden im folgenden drei Einheiten aus Sprachlehrvideos für den Italienisch-Anfängerunterricht (Einstiegsphase) vorgeführt. Dazu wurden aufmerksamkeitslenkende Fragen und Übungsaufgaben gestellt, die dem Leistungsstand der jeweiligen Gruppe angemessen waren.

Als Testvideos wurden drei typische Filmkategorien ausgewählt:

- gefilmte Theatersketche

- Trickfilm (Plastilinanimation)

- Dokumentarspiel/Realszenen

Es handelte sich bei allen drei Videos um extra für den Sprachunterricht für erwachsene Anfänger produzierte Materialien. Die Materialien erfüllten die Rahmenbedingungen, Seheinheiten von nicht mehr als ca. fünf Minuten anzubieten, auf ein sprachliches Anfängerniveau (ohne Vorkenntnisse) abgestimmt zu sein und systematisch und kontinuierlich einer sprachlichen Progression zu folgen.

Die gefilmten Sketche stammen aus dem Fernsehsprachkurs Avanti, Avanti. Es handelt sich dabei um kurze, in sich abgeschlossene Rollenspiele im Studio mit sparsamen Requisiten, die eingeführtes Wortmaterial illustrieren. Das theatralische Moment wird durch Kostümierung und Maskierung sowie durch eine überpointierte Mimik und Gestik unterstrichen.

Die Plastilinanimation und die Realszenen stammen aus dem Selbstlernvideo Italienisch zu Hause.

Der Trickfilm mit Plastilinfiguren ist seriell aufgebaut. Die typisierten Figuren werden allmählich entwickelt. Zwei Funktionen werden konsequent durchgehalten: Die Figuren fungieren einerseits als kulturkritische Karikaturen unterschiedlicher Nationalstereotypen, andererseits liefern sie eine sozialpsychologisch stimmige Studie über Abhängigkeitsverhältnisse auf einer zwischenmenschlichen Ebene. Die Hauptinformation der problemorientierten und ironischen Darstellung liegt im Gegensatz zu Avanti Avanti im Bild. Die Hauptmerkmale des Films bestehen neben der Orientierung auf politische und sozialpsychologische Themen in einer sorgfältigen Dramaturgie, in der handwerklichen Virtuosität, im Einfallsreichtum, in der gestalterischen Präzision (der poetischen Funktion im jakobsonschen Sinne) und der Geschwindigkeit der Transformationen der Knetfiguren.

Die Realszenen sind ebenfalls seriell aufgebaut.395 Es handelt sich um ein dokumentarisches Spielfilmsegment, das an Originalschauplätzen aufgenommen wurde und Alltagssituationen (Tagesablauf, Einkauf etc.) nachstellt. Die Darsteller sind Laien. Der Film gibt keine Auskunft über den authentischen Gehalt (gemeint ist hier die `Darstellungsauthentizität') des Films. Die Autoren verzichten auf eine dramatische Gestaltung mit Höhepunkt und akzentuiertem Schluß. Auch in diesem Fall war die Bildinformation erheblich größer als die sprachliche Information.396

3.2.2.1.2 Zuschauerbefragung

Die Versuchspersonen wurden unmittelbar nach der jeweiligen Vorführung gebeten, einen Fragebogen mit drei offenen Fragen zum jeweiligen Videoausschnitt auszufüllen.

Die Fragen lauteten:

1. Was sind für Sie die wichtigsten Informationen aus dem Video?

2. Wie hat Ihnen der Film gefallen? Was sind die Gründe?

3. Konnten Sie den Film sprachlich/akustisch gut verstehen?

Die Filme wurden in der beschriebenen Reihenfolge vorgestellt. Die Reihenfolge setzte den meiner Meinung nach ungeeignetsten Film an den Anfang, den meiner Meinung nach geeignetsten ans Ende der Videopräsentation, um das Interesse der Testpersonen wachzuhalten. Die Reihenfolge von Darbietungen hat immer auch einen persuasiven Charakter und kann, wenn andere Faktoren nicht gravierender sind, tatsächlich maßgeblich werden.397 Wie im weiteren Testverlauf ablesbar, beeinflußte diese Entscheidung das Urteil nicht.

Die Antworten:

1. Zur ersten Frage

Die Antworten auf die erste Frage variierten zwischen kurzen Inhaltsangaben oder Auslassungen. Während sich die Wiedergabe von Informationen aus den ersten beiden Filmen vornehmlich auf sprachliche Informationen beschränkte, dominierten im Kommentar zum dritten Filmbeispiel atmosphärische Bildinformationen.

Das dritte, an Originalschauplätzen gedrehte Video erhielt grundsätzlich den längsten Kommentar zur ersten Frage, was als Indiz für ein größeres Interesse in Betracht gezogen werden kann. (Eine Lernerin stellte eine Ausnahme dar. Sie fühlte sich durch den ersten Film derart unterschätzt, daß ihre negative Kritik den längsten Antwortteil ausmachte.)

2. Zur zweiten Frage:

Das `Filmtheater' wurde zunächst überwiegend positiv aufgenommen. Nach der Vorführung der Plastilinanimation wurde er jedoch als banal, unoriginell und dilettantisch verworfen.

Der Trickfilm wiederum verlor die Zuschauergunst nach der Präsentation der realistischen Filmszene.

Bis auf eine Teilnehmerin votierten alle Versuchspersonen für das letzte, realistische Filmbeispiel, das sich nicht um eine dramaturgische Gestaltung bemüht. Die Präferenz wurde mit der großen Realitätsnähe begründet. "Das ist so, wie es wirklich in Italien ist."

Die Teilnehmerin, die die Plastilinanimation bevorzugte, argumentierte mit deren höherem Unterhaltungswert und lobte "die intelligente Machart".

3. Zur dritten Frage

Die Filme wurden ausnahmslos für gut verständlich befunden, obwohl Avanti Avanti eine verlangsamte und überakzentuierte Bühnensprache benutzt und der Trickfilm eine leicht verlangsamte und betont deutliche Aussprache bietet, während im Dokumentarspiel ein natürliches Sprechtempo und eine normale, leicht regional gefärbte Aussprache zu hören sind.

Bei dem geringen Wortmaterial, das Anfängern zur Verfügung steht, bereitet das Hörverständnis auch dann keine Schwierigkeiten, wenn in einem auf das niedrige Sprachniveau abgestimmten Film ein natürliches Sprechtempo und eine natürliche Aussprache beibehalten werden. Diese Erfahrung bestätigte sich ohne Ausnahme in den Unterrichtsversuchen mit dem Modellfilm.

3.2.2.1.3 Zweite Präferenzkontrolle

Im Gegensatz zu Avanti, Avanti sind die Trickfilmsegmente ebenso wie die Realszenen in Italienisch zu Hause seriell angeordnet. Das bedeutet, daß die Konturierung der Figuren immer genauer wird.

Um einerseits Hinweise auf den - ansatzweise vorhandenen - Serieneffekt zu erhalten, andererseits die Wirkung einer besonders detailgenauen, sorgfältigen und ideenreichen Realisierung, wie einige Folgen der Trickfilmserie sie in besonderem Maße bieten, einschätzen zu können, wurden die Befragten um einen zweiten Vergleich gebeten.

Wieder wurde an erster Stelle eine theatralische Rollenspiel-Sequenz aus Avanti, Avanti gezeigt. Aus Italienisch zu Hause folgten eine Realsequenz, dann der Trickfilm und zum Abschluß eine weitere Folge der Realszenen.

Der Entschluß, insgesamt drei der Realszenen zu zeigen und ihnen damit einen bevorzugten Stellenwert zuzuordnen, beruht darauf, daß die Protagonistin nur sehr langsam etwas Profil gewinnt und die Reaktion der Zuschauer auf die allmähliche - allerdings immer oberflächlich bleibende - Ausgestaltung der Figur von Interesse war. Außerdem sollte ein Vergleich zwischen Trickfilm und Realszene mit derselben Redeabsicht möglich sein. Doch während der Trickfilm zur Redeabsicht "Ein Hotelzimmer bestellen" außerordentlich virtuos ist, ist die Realszene zum selben Thema gerade besonders einfallslos. Die reale Episode, in der jemand vorgestellt und etwas bestellt wird, weist dagegen eine etwas größere Dynamik auf.

3.2.2.1.4 Zuschauerbefragung

Die Frage nach der Präferenz wurde von den Teilnehmern einhellig beantwortet. Alle entschieden sich für die Trickfilmanimation als den mit Abstand attraktivsten Film und korrigierten damit ihr Votum aus der ersten Befragung. Als Gründe nannten die Befragten: den Ideenreichtum, die gestalterische Sorgfalt, die genaue Typisierung, die liebevolle Haltung der Macher zu ihrem Gegenstand, die Intelligenz der Konstruktion.

Gleichzeitig wurden die Realszenen als eindeutig besser beurteilt als das verfilmte, nicht als erwachsenengerecht empfundene Theater aus Avanti, Avanti. Die authentische Wirkung, die `Echtheit' wurden als Qualitäten empfunden. Dramaturgie und Ästhetik wurden als zu wenig elaboriert kritisiert, inhaltliche Relevanz fehlte.

3.2.2.1.5 Zusammenfassung der Ergebnisse

Der Wunsch nach Realismus, nach einem Eindruck des `wirklichen' Italiens wurde im ersten Testdurchlauf deutlich. Das Verlangen nach einer möglichst großen Nähe, nach einem möglichst lebendigen und authentischen Eindruck vom Land der Zielsprache wurde jedoch überlagert vom Wunsch nach einem unterhaltsamen Film. Obwohl die Plastilinanimation von Italienern hergestellt wurde, ist sie landeskundlich derart gering spezifiziert, daß sie unverändert auch in einen spanischen und einen französischen Videosprachkurs aufgenommen wurde.398

Der politische Symbolgehalt der Trickfilmanimation wurde im zweiten Testdurchlauf evident. Die allegorische Stilisierung der Figuren wurde von einigen Zuschauern als eine intelligente Gestaltung wahrgenommen.

Die durchgängige, psychologisch genaue Konstruktion sozialer Beziehungsgeflechte erfüllte eine integrative Funkion. Zu dieser Ebene fanden alle Zuschauer einen Zugang, der sich in deutlichen nonverbalen Reaktionen zeigte.

Inhaltlich wie thematisch erwies sich der Trickfilm damit auf mehreren Ebenen als erwachsenengerecht. Eine wichtige Rolle für die Akzeptanz spielte die ästhetische Komponente.

Obwohl die Teilnehmer nach dem zweiten Testdurchlauf ausnahmslos für den Trickfilm votierten, sollte das Ergebnis des ersten Durchlaufs nicht ignoriert werden.

Der Wunsch nach einem filmischen Surrogat für das ferne Land der Zielsprache, der Wunsch nach authentischen Eindrücken kam deutlich zum Ausdruck und darf aufgrund der einschränkenden Wirkung des Testmaterials nicht in Abrede gestellt werden. Bei der Auswahl der Unterrichtsvideos mußte auf das spärliche und unzulängliche Material des Marktes zurückgegriffen werden. Die am ehesten `authentischen' Filme waren allerdings nicht die dokumentarischen Spielsequenzen, sondern die Plastilinanimationen, die die Kriterien einer rezeptiven und einer kommunikativen Authentizität erfüllen.

Es erwies sich daher als günstig, bei der Konzepterstellung für einen exemplarischen Sprachlehrfilm die Qualitäten eines realistischen, landesspezifischen Films mit denen, die die Trickfilmanimation auszeichneten, zu kombinieren.

Zu diesen Qualitäten gehörten

· der serielle Aufbau,

· der politische Bezug einer Thematik,

· der psychologische Bezug einer Thematik ( der sozial- und auch tiefenpsychologische Bezug, der sich in der Thematisierung von Machtverhältnissen zwischen Menschen manifestiert, könnte durch kulturpsychologische Aspekte bereichert werden. Vermutlich geschieht das ohnehin unbewußt- automatisch, wenn tiefgehende menschliche Beziehungen dargestellt werden),

· die handwerklich- technische Sorgfalt,

· eine komplexe wechselseitige Beziehung zwischen Inhalt und Form, also eine ästhetische Kohärenz,

· eine erkennbare Position der Autoren zum Dargestellten,

· ein erkennbarer Stil,

· (Selbst-) Ironie.

3.2.2.2 Zweiter Schritt: Filmwirkung im Sprachunterricht

In einem zweiten Schritt interessierte daher zur Hypothesenbildung die Wirkung eines Films im Sprachunterricht, der die entsprechenden inhaltlichen und ästhetischen Merkmale aufweisen konnte.

Unter den didaktischen Rahmenbedingungen der Kürze, des Lernniveaus und der Systematik ließ sich kein Testmaterial mit den erforderlichen qualitativen Merkmalen finden. Deshalb wurde auf ein höheres Lernniveau (etwa Grundstufe 2/Mittelstufe 1) zurückgegriffen.

Die authentische deutsche Familienserie Lindenstraße konnte aufgrund ihrer Dramaturgie als Zusatz-Material für einen Bildungsurlaub `Deutsch als Fremdsprache' mit 11 ausländischen Metallarbeitern und einer Arbeiterin eingesetzt werden, denn die Telenovela-Dramaturgie liefert ohnehin unterrichtsgerechte Sequenzen. Außerdem lassen sich aus der Familienserie ohne Schwierigkeitein lebensrelevante Themen herausfiltern. Die oben aufgezählten Qualitäten weist die Lindenstraße in einem recht hohen Maße auf.

Um die Wirkung des Medieneinsatzes im Rahmen eines Vergleichs messen zu können, wurde ein Italienisch-Intensivkurs systematisch mit den Trickfilmanimationen und den Realsequenzen aus Italienisch zu Hause begleitet. Ein Intensivkurs `Deutsch als Fremdsprache für ausländische Arbeitnehmer mit Grundkenntnissen' wurde mit chronologischen Sequenzen eines Erzählstranges einer Folge der Lindenstraße begleitet. Der Videoeinsatz wurde in beiden Kursen in einen vergleichbaren didaktischen Rahmen eingebettet. Die Unterrichtsmethoden unterschieden sich bei derselben Lehrperson nicht.

Der Italienischkurs fand im September/Oktober 1991 an der Volkshochschule Essen statt. Der einwöchige Bildungsurlaub `Deutsch als Fremdsprache' wurde im Februar 1992 an der Volkshochschule Velbert in Zusammenarbeit mit der IG-Metall Velbert durchgeführt.

Ausgewählt wurde die Lindenstraßen-Folge vom 1.12.1991. Die Gesamtlänge der im Unterricht eingesetzten Sequenzen betrug 7,5 Minuten.

3.2.2.2.1 Präferenzen

In beiden Unterrichtsversuchen nannten die Teilnehmenden nach Abschluß des Kurses (anonym und schriftlich) die für sie positivsten und negativsten Unterrichtselemente.

Während im Deutschkurs alle Teilnehmer die Videosegmente der Lindenstraße unter den positivsten Elementen nannten, wurde der Filmeinsatz im Italienischkurs lediglich von einem Teilnehmer als besonders positiv empfunden, vier Lernende beurteilten ihn als besonders negativ, die restlichen Befragten ließen den Videoeinsatz unerwähnt.

Indirekt bestätigten sich die Ergebnisse der vorangegangenen Befragungen.

Es bestätigten sich ebenfalls die Ergebnisse des Saarbrückener Projekts, die beim Einsatz authentischen Filmmaterials über Präferenzbefragungen bei Französisch-Studenten einen signifikanten Motivationsanstieg feststellten, beim Einsatz von typischem Schulfernsehen jedoch nur eine sehr geringe motivierende Wirkung beobachten konnten.399

Die Bedeutung der Ergebnisse der Vortests liegt in ihrer Eindeutigkeit. Bei der Beurteilung qualitativ besseren und schlechteren, wirkungsvollen und weniger wirkungsvollen Materials konnte ein Konsens gefunden werden.

Aus der Sicht der Lernenden lag die Qualität der Lindenstraßen-Sequenzenin ihrer inhaltlichen Relevanz. Die Teilnehmer konnten sich mit der Handlung der Lindenstraße identifizieren, sie empfanden sie als spannend und stellten einen symbolisch-politischen Bezug her, der für die besondere Affektstimulierung verantwortlich war. Kommentare wie: "Genau darum geht es.", "Das ist wirklich wichtig.", "Robert will Macht" kennzeichneten diese Rezeptionshaltung.

Signifikante Themen, die die Lebenswelt der Lernenden berühren - glaubwürdig dargestellt und spannend erzählt - räumten dem Filmbeitrag in der individuellen Wertskala der Rezipienten den ersten Rang ein.

Der Unterrichtseinsatz bestätigte die theoretisch gewonnenen Thesen.

Bei einer Übertragung des Konzepts auf eine Anfängerunterrichtssituation im Ausland mußte jedoch folgendes beachtet werden:

Die Lindenstraße zeichnet sich durch eine starke Dialogorientierung und eine sparsame Bildsprache aus, die durch große, nahe und halbnahe Aufnahmen dominiert wird. Mit wenigen Zeichen werden soziale Zusammenhänge skizziert. Um einen Lebensstil deutlich zu machen, genügt es beispielsweise, eine Sofalehne zu sehen und ein Bild über dem Sofa. Dem in Deutschland lebenden Zuschauer reichen wenige Indizien, um einen Typus zu identifizieren. Für einen Zuschauer im Ausland, der das soziale Gefüge in Deutschland mit seinen zeitgebundenen schicht- und gruppenspezifischen Symbolen nicht kennt, würde die reduzierte Bildsprache der Lindenstraße viel an Aussagekraft einbüßen. Die Zielgruppe des Unterrichtsversuchs dagegen war in das in Deutschland derzeit gültige symbolische Distinktionssystem integriert, so daß die Personeneinordnung, das Erkennen der feinen Unterschiede, keine Schwierigkeiten bereitete. Anders sind die Vorkenntnisse Fremdsprachenlernender im Ausland. Ein Sprachlehrfilm muß den visuellen Code deutlicher gestalten.

B. Modellfilmproduktion

3.3 Hauptstraße 117 -
ein exemplarischer Sprachlehrfilm400

1992 wurde auf der Grundlage der theoretisch gewonnenen und durch die Vortests mit vorhandenem Filmmaterial bestätigten Erkenntnisse ein Modellvideo erstellt.

Anhand der Videoserie sollten vor allem drei Fragen beantwortet werden:

1. Ist die Umsetzung der theoretisch gewonnenen Aussagen praktisch möglich? (Kann beispielsweise eine mehrsträngige Erzählform in nur fünfminütigen Folgen einen Spannungseffekt erzielen? Wird Identifikation möglich? Wirkt der Serienreiz? Wirken Laiendarsteller tasächlich `authentisch'? Läßt sich mit dem sprachlichen Korsett des Anfangsunterrichts eine Geschichte, die den Bedingungen der dramaturgischen Postulate gehorchen muß, glaubwürdig erzählen?)

2. Wie beurteilen die Adressaten den Film und den Unterricht mit dem Film? Bestätigen sich die theoretischen Vorannahmen, oder sind die Ergebnisse widersprüchlich?

3. Wie läßt sich die emotionale und kognitive Aktivierung401 der Lernenden feststellen und bewerten? Zeigen sich Hinweise auf Unter- oder Überforderung? Liefert die Serie einen Maßstab für andere Produktionen?

3.3.1 Die Rahmenbedingungen

Der Film wurde mit finanzieller Unterstützung des Goethe-Instituts und des Kommunalverbands Ruhrgebiet produziert. Insgesamt wurde ein Volumen von acht mehrsträngigen, ca. fünfminütigen Folgen finanziert.

Die Laiendarsteller wurden in die Drehbuchkonzeption eingebunden.

Ein Kommentarteil in einem vom Goethe-Institut erstellten Übungsbuch zum Film gibt Aufschluß über das Verhältnis zwischen filmischer Fiktion und Realität.402

Folgende Rahmenbedingungen schränkten die inhaltlich-ästhetische Umsetzung der Gestaltungskriterien ein:

· Mindestens 15 Minuten der Serie mußten an Drehorten spielen, für die der Kommunalverband wirbt.

· Das Video orientiert sich in der lexikalischen und grammatischen Progression eng an dem Lehrwerk Themen 1 (alt) von Aufderstraße u. a. (1983), Lektion 2 bis Lektion 5. Die Gründe für ein lehrwerkbegleitendes Konzept wurden im 1. Kapitel `Lehrwerkintegration' genannt. Durch die weiteVerbreitung des Lehrwerks wurde die Erprobung im Unterricht erleichtert. Nach rein pragmatisch-quantitativen Kriterien - nicht etwa nach qualitativen - wurde das Lehrwerk Themen 1 ausgewählt, das aus einem Lehrbuch, einem Übungsbuch, Audiokassetten und Lehrerhandreichungen besteht.

· Ein geringes Budget reduzierte die ästhetischen und inhaltlichen Möglichkeiten.

3.3.2 Die didaktischen Vorgaben

Die Progression der ersten Lektion von Themen 1 ist ausgesprochen flach, so daß in der vierten bis fünften Unterrichtseinheit das Ende von Lektion 2 erreicht werden kann.

Die ersten beiden Lektionen behandeln thematisch `erste Kontakte', sich zu begrüßen und sich vorzustellen, den Beruf, Familienstand, Geburtsdatum und Herkunft anzugeben und danach zu fragen.

Mit dem Abschluß der Lektion 2 beginnt die Serie.

Die nächsten drei Folgen begleiten die dritte Lektion mit dem Themenschwerpunkt `Wohnen'. Die Wohnsituation sowie Gegenstände in Haus und Haushalt werden benannt und beschrieben. Außerdem wird gelernt, Preisangaben zu verstehen und zu notieren.

Drei Folgen mußten, entsprechend der vierten Lektion, Vokabular zum Thema `Essen und Trinken' unterbringen. `Eßgewohnheiten beschreiben', `Bestellungen aufgeben und bezahlen', `Komplimente und Reklamationen bei Tisch' und `Lebensmittel einkaufen' beschreibt das Inhaltsverzeichnis die Redeabsichten näher.

In der letzten Folge werden als Einstieg in die fünfte Lektion Freizeitbeschäftigungen benannt, und das Akkusativ-Objekt wird eingeführt.

Das Lehrwerk basiert auf Dialogen, die die spontan gesprochene Sprache imitieren sollen. Um einen Eindruck des für den Film zur Verfügung stehenden Sprachmaterials zu vermitteln, hier exemplarische Dialoge aus Lektion 2 (Ende) und Lektion 4.
 
Lektion 2 (Themen neu 1: L 1) Lektion 4 (Themen neu , L.3)
Herr Weiß aus Schwarz
- Wie heißen Sie? - Wir möchten gern bestellen.
- Weiß. - Bitte, was bekommen Sie?
- Vorname? - Ich nehme eine Gemüsesuppe
- Friedrich. und einen Schweinebraten.
- Wohnhaft? - Und was möchten Sie trinken?
- Wie bitte? - Ein Glas Weißwein, bitte.
- Wo wohnen Sie? - Und Sie? Was bekommen Sie?
- In Schwarz. - Ein Rindersteak, bitte. Aber
- Geboren? keine Pommes frites, ich möchte
- Wie bitte? lieber Bratkartoffeln. Geht das?
- Wann sind Sie geboren? - Ja, natürlich!
- Am 5.5.55. Und was möchten Sie trinken?
- Geburtsort? - Einen Apfelsaft, bitte.
- Wie bitte?
- Wo sind Sie geboren?
- In Weiß.
- Sind Sie verheiratet?
- Ja.
- Wie heißt Ihre Frau?
- Isolde, geborene Schwarz.
- Sie sind also Herr Weiß -
wohnhaft in Schwarz -
geboren in Weiß -
verheiratet mit Isolde Weiß -
geborene Schwarz?
- Richtig.
- Und was machen Sie?
- Wie bitte?
- Was sind Sie von Beruf?
- Ich bin Elektrotechniker.
Aber ich arbeite - schwarz.
- Das ist verboten.
- Ich weiß.

Die Dialoge sind nicht kontextualisiert. Lediglich kleine Aquarellzeichnungen skizzieren die Situation. Die Sprache wird von individuellen sowie von Schicht- und Gruppenspezifika losgelöst, sozusagen anonymisiert und vollständig formalisiert. Während der erste Dialog unbesehen seiner didaktischen Qualität zumindest eine gewisse `Authentizität' besitzt, da er auf den Humor des Autors schließen läßt, sind die vorherrschenden Musterdialoge entfremdete, entmenschlichte Produkte. Ihre Sprecher erhalten keine Identität, die Dialoginhalte sind beliebige Versatzstücke. Der pragmatische Ansatz Piephos, der sich als emanzipatorisch verstanden hatte, wird hier nicht eingelöst.403 Während im theoretischen Teil der emotionale Aspekt des Sprachenlernens als fundamental herausgestellt wurde, bietet Themen 1 eine Version von Sprache, die in ihrer von einem konkreten Sprecher losgelösten Form keine Ausdrucksqualität mehr besitzt.404 Mit einem Zitat des Psychologen Zimbardo zum Phänomen der Dehumanisierung sei daran erinnert, was Sprachlernenden und den Menschen, die die so vermittelte Sprache sprechen, im Grunde angetan wird:

"Im Gegensatz zu humanen Beziehungen zwischen Menschen (die subjektiv, persönlich und emotional sind) ist eine entmenschlichte Beziehung objektiv, analytisch und arm an emotionalen und empathischen Interaktionen oder Reaktionen."405

Die Voraussetzungen, die sich durch die Wahl des Lehrwerks Themen 1 ergaben, beeinflußten die Konzeption des Drehbuchs erheblich. Die Banalität der Dialoge ließ allerdings viel Spiel-Raum zu, so daß das dem Lehrwerk gegenläufige, inhaltsorientierte, auf eine `bedeutungsvolle Kommunikation' ausgerichtete Filmkonzept durchaus realisierbar war406, während die sprachliche Synchronität zwischen Film und Buch beinahe vollständig durchgehalten werden konnte.

3.3.3 Ästhetische Merkmale des Modellfilms

Neben der bereits beschriebenen Modellfunktion der Lindenstraße fanden folgende Aspekte Berücksichtigung:

Auf einer rein formalen Ebene wurden die im Kapitel über emotionale Konditionierungen zusammengefaßten wirkungspsychologischen `Rezepte' zur Steigerung der langfristigen Behaltensleistung berücksichtigt. Sie bilden quasi die formale `Mikrostruktur' der Serie. Die Analyse der Videoprotokolle dokumentiert teilweise die Verfahrensweise am Beispiel der ersten drei Folgen. Als Stichworte lassen sich Initialaktivierung, Intensivierung, Emotionalisierung, Kollation, Aha-Effekt und gezielte Aktivierungsschübe nennen.

Die `Makrostruktur' orientiert sich vor allem an den Kriterien, die aus den Überlegungen zur Vermittlung eines Deutschlandbildes gewonnenen wurden. Sie werden durch die Schlüsselbegriffe der Erfahrungsvielfalt, der Dialogizität und Polyphonie, der Ausrichtung auf das Private und Intime, des Dokumentarischen und des Narrativen, Selbstzeugnissen-Raum-Gebenden gebündelt.

Gemäß den Überlegungen zur Funktion von Ästhetik und kognitiven Markierungen wurde vorrangig versucht, neben der inhaltlichen Relevanz auch eine die Inhalte jeweils unterstützende Form zu finden.

Eine exemplarische Analyse der Eingangssequenz verdeutlicht das - in der praktischen Umsetzung qualitativ nicht durchgängig homogene407- Konzept.

Hauptstraße 117, 1. Folge, 1. Bild - Analyse

Ein trainierter Körper gehört in Deutschland zum durch Werbung vermittelten Klischee eines erfolgreichen Menschen. Die Detailaufnahmen des Einstiegs (weißes, wehendes T-Shirt-Detail an laufendem Körper, Brustausschnitt, Markensportschuhe) konstruieren das Cluster: Bewegung, Reinheit, Dynamik, Selbstbewußtsein, Körperbewußtsein, Offenheit, Solvenz.

Auf Druck einer besonders seit den 70er Jahren wiedererstarkten feministischen Bewegung sind vor allem bei jungen Männern, die sich als modern und bewußt betrachten und die sich von den Vätern abgrenzen möchten, Übernahmen traditioneller Frauenaufgaben salonfähig geworden. Daß hier der junge Jogger Brötchen holt und das Frühstück ans Bett bringt, läßt daher nicht allein auf eine frische Verliebtheit schließen, sondern auch auf eine soziale Integration in die Mittelschicht, die versucht, die jahrelange öffentliche Diskussion um Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in die eigene Lebenswirklichkeit einzubinden. Damit bestätigt sich das ebenfalls von der Werbung suggerierte Selbstbild, modern und aufgeschlossen zu sein. Die Abhängigkeit des jungen Paares von Werbung entlarvt sich schon in diesem ersten Bild durch Details der Wohnrequisiten, die nicht zweckmäßig ausgewählt sind, sondern rein dekorative Qualitäten besitzen. Geradezu grotesk erscheint das Umschütten des Kaffees aus der Kanne der (teuren) Kaffeemaschine in eine noch dekorativere, französische (Chrom erlebt zur Zeit in Deutschland eine Renaissance. Die gefilmte Kanne kostet zehnmal mehr als eine preiswerte Kanne). Das deutsche Kleinbürgertum bemüht sich in seiner Orientierung am mächtigen Großbürgertum um Stil.

Die Orientierung des `modernen jungen Mannes' an den populären Rezeptionen feministischer Avantgarde wird geradezu sabotiert im anachronistischen Rekurs auf altenglisches Butlergehabe. Damit wird die Partnerin zur Lady hochstilisiert, die sie nicht ist, die er aber gern hätte. Der scheinbar so aufgeschlossene, emanzipierte junge Mann entpuppt sich über den visuellen Code als unkritisch angepaßt. Kleinbürgerliches Selbstbewußsein entlarvt sich damit als geborgtes. Die heimliche Fixierung auf die `besseren Leute' wird deutlich, der Wunsch nach Partizipation an der Welt und dem Lebensstil der Reichen, konterkariert durch die bestimmenden Elemente kleinbürgerlicher Integration. Dazu gehört auch der gepfiffene Schlager: "Der Kaffee ist fertig ..." Dieser musikalische Dauerbrenner ist ein beliebter 7.00 Uhr-Beitrag des Frühstücksradios, das dem deutschen Lohnabhängigen die saure Pflicht des frühen Aufstehens verzuckern soll. Stilistisch gebrochen wird der Stilwille des jungen Mannes auch durch die enttäuschte Erwartung. Anstatt die Angebetete im Bett zu überraschen, überrascht ihn die Toilettenspülung, Inbegriff des Profanen, Indiz des Drecks. Die junge Frau ist zur Lady-Rolle an diesem Morgen - aus welchen Gründen auch immer - nicht aufgelegt. Frau frustriert Mann. Daß sie eludierendes Moment seiner Scheinwelt (und damit Spiegel eines erwachenden weiblichen Selbstbewußtseins außerhalb der intellektuellen feministischen Avantgarde) werden könnte, ahnt der sensible Zuschauer schon jetzt.

Auf die unkritische Adaption der durch die Massenmedien vorinszenierten Verhaltensmuster wird kamera- und schnittechnisch verwiesen. Die in der Werbung gängige Bildcollage kurzgeschnittener Detailaufnahmen (der Kaffee läuft durch die Maschine, das Umschütten des Kaffees etc.), die den Eindruck eines filmischen Erlebens suggerieren, wo es nichts zu erzählen gibt, wird kopiert und als Indiz kritisch funktionalisiert.
 
 


[...]







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Abbildung 13: Negative und positive Charakteristika von
`Hauptstraße 117' in Brasilien

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Abbildung 14: Negative und positive Charakteristika von
`Hauptstraße 117' in Argentinien

Die wichtigsten positiven Kriterien (die oberen 50% der Nennungen) waren für die Testpersonen insgesamt:

1. die Realitätsnähe (übereinstimmend mit den Ergebnissen der
Lindenstraßen-Forschung),

2. die filmische Qualität,

3. der Abwechslungsreichtum,

4. der Unterhaltungswert,

5. die Ironie,

6. die Typenwahl,

7. die Darstellung,

8. die Evozierung von Empathie,

9. das Erwecken von Neugier,

10. die Originalität oder Glaubwürdigkeit.441

Ein Vergleich mit den Kriterien, die den Zuschauern der Lindenstraße wichtig waren (1. Realitätsnähe, 2. Spannung/ Abwechslungsreichtum/ Unterhaltungswert, 3. Schauspielerische Leistung, 4. Relevante Themen/ Problemorientierung/ keine Banalitäten, 5. Dramaturgische Kohärenz)442, weist große Ähnlichkeiten auf, die eine authentische Rezeptionshaltung bestätigen. Auch hier fällt jedoch die Abweichung im zweiten Punkt auf. Der ästhetische Aspekt erhält in der Hauptstraße ein erheblich höheres Gewicht und kann hauptverantwortlich für die sehr positive Gesamtbeurteilung sein.443

Die Prognose, die im theoretischen Teil gestellt wurde, man könne die Attraktivität der Aktualität444 durch ästhetische Qualitäten ersetzen, scheint sich hier zu bestätigen.

Ein sekundäres negatives Charakteristikum, das bei der Lindenstraßen-Kritik wie bei der Hauptstraßen-Kritik genannt wird, ist die Sprunghaftigkeit, das Verwirrende der Mehrsträngigkeit. Auf dieses Argument geht die folgende Auswertung ein.

Die Einzeluntersuchungen im Vergleich

Für die Fragenbatterien 1A und 1B konnten erhebliche Unterschiede zwischen den Nationalitäten festgestellt werden. Die befragten Gruppen in Brasilien verteilten die meisten positiven Attribute. Besonders häufig wurden die Charakteristika `macht neugierig', `intelligent', `kritisch', `bewegend', `spannend, `originell', `filmisch gut' und `Ausstattung' genannt.

Die argentinische Gruppe beurteilte dagegen am zurückhaltendsten.

Bei der Fragebatterie 1B unterschied sie sich erheblich von allen drei anderen Gruppen. Sie hielt den Film für schlechter als alle anderen Testpersonen. In dieser Gruppe befanden sich ausschließlich Lehrende. Da die Lehrenden den Film, wie erwähnt, grundsätzlich schlechter bewerteten als die Lernenden, liefert die Analyse unter dem Unterscheidungsmerkmal `Nationalität' keine neue Aussage.

Bei den Gruppen 1 (Deutschland), 3 (Argentinien) und 4 (Italien) wurde die Sprunghaftigkeit der Serie am häufigsten als negatives Kriterium genannt. In Brasilien stand dagegen `zu kurz' an erster Stelle. Die elliptische Form war dort, wo die Sehgewohnheit durch die Rezeption zum Teil dramaturgisch sehr komplexer Telenovelas geprägt ist, mit lediglich drei Nennungen kaum relevant. Ebenfalls zu vernachlässigen sind weitere vereinzelte Nennungen.

Es ist zu beachten, daß der Kritikpunkt `Sprunghaftigkeit' sofort an Relevanz verliert, wenn die Serie didaktisch sinnvoll eingesetzt wird.445 Bei keiner befragten Person wog der Aspekt so stark, daß er das positive Gesamturteil entscheidend beeinflußt hätte.

Den geringen Stellenwert der Kritik belegt auch die Korrelation der Fragen 1B (negative Charakteristika) und 5 (Vermissensfrage): Trotz kritischer Anmerkungen wurde angegeben, den Film in Zukunft im Unterricht zu vermissen.

Unter den positiven Kriterien war das der Rührung (`bewegend') das am wenigsten genannte. Vor allem drei Gründe können dafür genannt werden:

· Bei der Frage handelte es sich um eine sogenannte `heikle', sehr persönliche Frage, die nur ungern beantwortet wird.

· Die Sequenzen, die geeignet sind, eine starke emotionale Bewegung zu stimulieren, sind an ein soziales Milieu gebunden, das dem des befragten Publikums nicht entsprach. Die Beobachtungen der Expert/innen bei Lerngruppen aus anderen Milieus stellten, wie oben dargestellt, eine erhebliche innere Bewegung fest.

· Die Frage wurde möglicherweise als Wiederholung empfunden. Sie stand an 13. Stelle, während an 7. Stelle die Frage nach der Empathie stand. Der sekundäre Stellenwert des Charakteristikums `bewegend' spiegelte sich nicht wider in den Antworten auf die Kontrollfrage "Es war mir möglich, mich in die eine oder andere Figur hineinzuversetzen". Die Frage nach der Einfühlung befand sich im oberen Antwortbereich.

Frage 2. Die sympathischsten Personen in Hauptstraße 117

Bei den Repräsentativ-Erhebungen zur Lindenstraße hatte sich die Frage nach der Einschätzung einzelner Personen und Themen als fruchtbar erwiesen. Die Zuschauer reagierten sensibel auf die unterschiedlichen Personen und ihre Handlungen. Aus der programmbegleitenden Forschung zur Lindenstraße insgesamt ergab sich, daß den wichtigsten Grund für die hohe Serienakzeptanz die breit gefächerten Identifikationschancen darstellten, die durch die unterschiedlichen Personen und deren Lebenswelt entstanden.446 Daher wurde die Sympathiefrage auch hier mit dem Erkenntnisziel gestellt, ob deutliche Personenpräferenzen gemacht werden (was für eine gelungene emotionale Stimulierung spricht), und ob die unterschiedlichen Identifikationsangebote akzeptiert werden.

Differenziert wurde zwischen Interesse und Sympathie. Die Ankreuzmöglichkeit `erinnere mich nicht' sollte Hinweise darauf geben, ob die Figuren sich bei der Folgenkürze und der geringen Folgenzahl genügend einprägen.

"2. Auf der folgenden Liste stehen die Hauptpersonen der Serie.

Welche Personen sind Ihnen persönlich am sympathischsten? Welche interessieren Sie am meisten? Kreuzen Sie bitte das Zutreffende an. Wenn Sie weitere Anmerkungen zu den Darstellern machen möchten, haben wir Ihnen unter `Sonstiges` Platz gelassen."

Zahl der Markierungen (Plazierung)
 

sympathisch interessant erinnere mich nicht
Ulli (Bankkaufmann) 27 (11.) 41 (9.) 9 (2.)
Tina (Galerie) 63 (5.) 51 (7.) 2 (6.)
Cordula Freundin) 34 (9.) 60 (5.) 9 (2.)
Elsbeth Hinz (Rentnerin) 142 (1.) 61 (4.) 0
Uschi Rydzewski (gibt Kochanleitung) 50 (6.) 54 (6.) 7 (3.)
Brigitte Kuglin (Reiseleiterein) 49 (7.) 79 (3.) 6 (4.)
Susanne Tomasek (Hausfrau) 88 (3.) 97 (2.) 5 (5.)
Robert Tomasek (Tscheche) 70 (4.) 114 (1.) 0
Jenny, Manuel, Kai Lino (Kinder) 108 (2.) 31 (11.) 0
Toni (Gerüstbauer) 30 (10) 43 (8.) 9 (2.)
Kai (Gerüstbauer) 35 (8.) 39 (10.) 12 (1.)

Tabelle 4: Sympathietabelle

Unter `Sonstiges' wurden mehrfach als besonders sympathisch der Kavalier von Frau Hinz genannt und die Wartenden auf dem Arbeitsamt.

Frau Hinz erwies sich als die Figur, die von der überwiegenden Mehrheit sympathisch gefunden wurde, während Robert Tomasek am meisten Interesse weckte.

Auf der Sympathieskala liegt Robert an vierter Stelle, hinter Elsbeth Hinz, den Kindern und Susanne.

Bei einer Addition der hinsichtlich der Film-Akzeptanz positiven Charakteristika `sympathisch' und `interessant' ergibt sich die Reihenfolge:
 
1. Elsbeth 208 7. Uschi 104
2. Susanne 185 8. Cordula 94
3. Robert 184 9. Kai 74
4. die Kinder 139 10. Toni 73
5. Brigitte 128 11. Ulli 68
6. Tina 114 (jeweilsAnzahl der Nennung)

Tabelle 5: Akzeptanztabelle

Schließlich wurde untersucht, ob die Beurteilung der Hauptpersonen (Frage 2) im Zusammenhang mit dem Faktor `Alter' beziehungsweise `Geschlecht' steht. Die grobe Unterteilung des Publikums nach Alter und Geschlecht wurde aus einem Erkenntnisinteresse vorgenommen, das Indizien dafür sucht, ob das Identifikationsangebot der Heterogenität der Zuschauenden gerecht wird. Die grundsätzlich aufschlußreiche Differenzierung nach Regionen wurde aufgrund der zu geringen Anzahl der Testpersonen nicht vorgenommen.

Berechnet wurde der Pearson-Produkt-Moment Korrelationskoeffizient447. Dabei ergab sich:

Filmfigur Rezipientenvariable

· Ulli Alter r = -0,1977

Unter der Rubrik `erinnere mich nicht' waren hier deutlich mehr Angaben bei jungen Leuten als bei älteren.

Ein exemplarischer Interpretationsvorschlag:

Einerseits könnte hier eine Abwehrhaltung aus einer altersspezifischen Abgrenzungsmotivation vorliegen, die mit der Haltung verbunden ist: "So langweilige Typen wie Ulli nehme ich gar nicht wahr. Ich bin (möchte) viel interessanter (sein)." Andererseits könnte der Befund auch darauf hinweisen, daß jüngere Personen ein größeres Interesse an der Story haben als an der Person. Ulli hat (noch) keine Geschichte, die ihn `interessant' macht.

Es könnte auch ein Indiz dafür sein, daß ältere Menschen eher Interesse an ihnen fremden Lebensformen haben als jüngere.

Verallgemeinerungen können allerdings aufgrund des autoritativen Charakters der Stichprobe nicht gemacht werden. Tendenzen sind jedoch ablesbar.

· Elsbeth Alter r = - 0,1734

Jüngere nennen Elsbeth Hinz häufiger sympathisch als Ältere

· Robert Alter r = 0,2170

Das Interesse an Robert steigt mit dem Lebensalter.

· Toni Alter r = -0,2000

Jüngere erinnern sich schlechter an Toni als Ältere.

· Kai Alter r = -0,1969

Jüngere erinnern sich schlechter an Kai als Ältere.

· Cordula Geschlecht r = -0,2406

Männer erinnerten sich weniger häufig an Cordula als Frauen.

Männer der höheren Altersgruppe fanden Cordula jedoch tendenziell interessanter als die anderen Befragten.

· Tina Geschlecht r = -0,1701

Männer nennen Tina häufiger sympathisch als Frauen.

· Brigitte Geschlecht r = 0,1677

Frauen finden Brigitte interessanter als Männer.

· Susanne Geschlecht r = 0,1585

Frauen finden Susanne interessanter als Männer.

· Kinder Geschlecht r = 0,2195

Frauen haben mehr Interesse an den Kindern als Männer.

Bis auf eine Ausnahme (Uschi) waren bei der Rezeption sämtlicher Figuren erhebliche Unterschiede unter dem Gesichtspunkt einer alters- und /oder geschlechtsspezifischen Rezeption zu verzeichnen.

Alle Figuren fungierten für einen Teil der Rezipienten als Sympathieträger, selbst solche wie Toni, der selbst unprofiliert blieb, jedoch eine negative handlungstreibende Kraft darstellte. Alle Figuren waren für einen Teil der Rezipienten interessant. Das Interesse an den Figuren insgesamt stieg mit dem Lebensalter. Die jüngeren Zuschauer selektierten offenbar stärker. An Elsbeth, Robert und die Kinder erinnerten sich sämtliche Zuschauer (es gilt zu bedenken, daß einige nur wenige Folgen sehen konnten):

Das sind neben Susanne, die besonders für Zuschauerinnen eine Identifikationsfigur verkörpert, die Personen, die am meisten zur Emotionalisierung der Serie beitragen.448 Die Sympathie für die Darsteller korreliert nicht etwa mit deren Auftrittshäufigkeit.

Zum Vergleich zur Sympathieskala hier die Reihenfolge der Hauptdarsteller, geordnet nach Auftrittshäufigkeit:

1. Tina (15mal)

2. Robert/ Susanne (14mal)

3. Brigitte (12mal)

4. Ulli/ Elsbeth (11mal)

5. Jenny/ Manuel/ Kai Lino (10mal)

6. Toni/ Kai (7mal)

7. Uschi (6mal)

8. Cordula (4mal)

Frage 3. und 4.: Nicht standardisierte Fragen zu den Stärken und Schwächen

Die Antworten werden im Abschnitt `Die nicht standardisierten Fragen' ausgewertet, der an die quantitative Datenauswertung anschließt.

Frage 5: Wird Ihnen der Film in Zukunft im Unterricht fehlen?

Die Antworten waren skaliert.449

Antworten

1. Die Serie wird mir bestimmt fehlen. Ich empfand
sie als Bereicherung. 102

2 Sie wird mir ein wenig fehlen. 62

3. Sie wird mir nicht fehlen. 4

4. Mir ist es gleichgültig, ob die Serie weitergeht oder nicht. 1

Tabelle 6: Vermissensfrage

Die Graphik veranschaulicht das Verhältnis von Rezipienten, die Hauptstraße 117 im Unterricht vermissen würden oder werden.

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Abbildung 16: Vermissensfrage

97% der Antwortenden gaben an, die Serie zu vermissen, lediglich 3% verneinten. Ein Vergleichswert dazu: auf die Vermissensfrage antworteten im Rahmen der programmbegleitenden Forschung zur Lindenstraße in allen Befragungsjahren immer über 20% der Zuschauer negativ.450

Der extrem hohe Anteil der positiven Antworten erklärt sich nicht allein aus der Qualität der Serie Hauptstraße 117, wie es die Rezeption der Muttersprachler nahelegt, sondern auch aus der Koppelung des (echten) Unterhaltungswerts an eine Informationsfunktion (Sprachunterricht und Landeskunde), die die Zuschauenden gezielt suchten. Sie reagierten nicht auf ein zufälliges Angebot des Fernsehens, sondern handelten zielgerichtet. Die Serie erhält also einen zusätzlichen Nützlichkeitswert. Im Kapitel über Sprachlehrfilm und Meinungsbildung war die These aufgestellt und verteidigt worden, daß ein Sprachlehrfilm eine höhere meinungsbildende Kraft hat oder haben kann als ein gewöhnlicher Fensehfilm. Das extreme Ergebnis der Vermissensfrage im Vergleich zum Publikumsmagnet Lindenstraße liefert einen bestätigenden Hinweis. Die Expert/inneninterviews gaben bereits entsprechende Anhaltspunkte. In den Gruppendiskussionen wird das Phänomen besonders deutlich. Die Antworten auf die folgenden Fragen weisen in dieselbe Richtung.

Frage 6: Hat Ihnen die Serie beim Deutschlernen geholfen?

Die Frage wurde lediglich den italienischen Probanden, der größten Lernergruppe vorgelegt. Von 31 Testpersonen bejahten 29 die Frage. 2 Personen gaben keine Antwort. (Hier fehlte im Fragebogen die Antwortvariante `Ich weiß nicht'.) Niemand verneinte.

Frage 7: Glauben Sie, daß das Deutschlandbild, das der Videofilm vermittelt, der Realität entspricht?

Auch hier war der Anteil der bejahenden Antworten mit 149 Nennungen extrem hoch. 7 Probanden verneinten. Fast alle negativen Antworten erhielten einen Zusatz wie: "`Die' Realität gibt es nicht." oder : "Das ist nur ein kleiner Ausschnitt."

Frage 8: Haben Sie etwas mehr über Deutschland oder `die Deutschen' oder über das Leben in Deutschland gelernt?

Die Frage wurde lediglich den Lernenden in Italien gestellt. Sie wurde zu 100% bejaht.

3.4.2.4.2 Die nicht-standardisierten Fragen

Der Fragebogen für die Deutschlernenden und deren Lehrer/innen wurde durch die offenen Fragen 3 und 4 ergänzt.

Gefragt wurde nach den besonderen Stärken und Schwächen des Films:

Frage 3: Was hat Sie persönlich am meisten an der Serie interessiert? Worin liegen für Sie die Stärken des Films?

Frage 4: Was hat Ihnen nicht gefallen? Worin liegen für Sie die Schwächen des Films?

Die Aussagen wurden mit der jeweiligen Fragebogennummer, dem Geschlecht, dem Alter, dem Status ihres Autors (Lehrender/Lehrender) und dem Ort, an dem der Fragebogen ausgefüllt wurde, exzerpiert und bei Bedarf aus dem Brasilianischen und Italienischen übersetzt. Die Aussagen wurden entsprechend den Verfahrensweisen der zusammenfassenden Inhaltsanalyse paraphrasiert und zu Themengruppen gebündelt. Die neuen Aussagen wurden als Kategoriensystem zusammengestellt und abschließend am Ausgangsmaterial rücküberprüft.451 Die Häufigkeit der Nennungen gewichtete die Kriterien und ließ Gruppenunterschiede deutlich werden.

303mal wurden als besonders positiv empfundene Aspekte der Serie erwähnt. 75mal wurden als negativ empfundene Aspekte des Videos bzw. des Unterrichts mit dem Video aufgeführt. Davon bezogen sich lediglich 34 Nennungen auf die Serie, die restlichen auf Probleme der Didaktisierung und andere Rahmenbedingungen. Somit ergibt sich eine Relation von 90% positiven Antworten zu 10% negativen Nennungen.

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Abbildung 17: Verhältnis der genannten Aspekte

Lehrende ohne Unterrichtserfahrung mit dem Film und Lernende mit einer entsprechenden Erfahrung beurteilten den Film zum Teil stark abweichend. Daher wird bei der Darstellung jeweils angegeben, in welchem Verhältnis Lerner- und Lehreräußerungen zueinander stehen.

Die Antworten auf die Frage:

4. Was hat Ihnen nicht gefallen? Worin liegen für Sie die Schwächen des Films?

konnten zu folgenden Themengruppen gebündelt werden:

1. Kritikpunkte, die den Film betreffen:

· Es wurde zu wenig gesprochen (10 Nennungen):

· 10 mal wurde bemängelt, daß im Film zu wenig gesprochen wird. Die Nennungen tauchten 8 mal bei Lehrern auf, die die Serie noch nicht eingesetzt hatten. Von seiten der Lernenden empfanden 2 Studenten der Universität Bologna die sprachlichen Anforderungen als zu gering.

· Dramaturgische Schwächen (9 Nennungen):

· 9 mal wurden Aspekte wie die elliptische Erzählweise, die Mehrsträngigkeit und die Vielzahl der Verflechtungen und der Protagonisten als negativ erwähnt. 5 Lernende und 4 Lehrende ohne Unterrichtserfahrung mit dem Film notierten diese Schwächen.

· Vereinzelte Nennungen (15):

Einer Lernerin fehlte "die große Liebesgeschichte".

Drei Lernende empfanden die Filmerzählung als stellenweise zu oberflächlich.

Ein Lernender empfahl, die Figuren Ulli und Tina wegzulassen, da sie uninteressant seien.

Eine Lehrperson und ein/e Lerner/in erwähnten die Figur Ulli als unsympathisch.

Zwei Lehrerinnen empfanden den Film stellenweise als depressiv.

Zwei Lehrerinnen empfanden ihn als zu dramatisch und emotional zu bewegend.

Ein Lehrer kritisierte, der Film sei manchmal gewollt und didaktisch.

Eine argentinische Lehrerin bemängelte den Film als stellenweise unrealistisch. Als Beispiel gab sie an, da Robert Tomasek arbeitslos sei, könne seine Frau unmöglich mit vollen Taschen vom Einkauf zurückkommen.

Ein Lerner und eine Lehrerin bemerkten, das Genre nicht zu mögen.

2. Befürchtungen von Lehrenden, die den Film noch nicht eingesetzt hatten (11):

· Der Film überfordert die Kursteilnehmer, vor allem Anfänger. (3 Nennungen)

· Die Information ist für die Lernenden zu dicht. (2 Nennungen)

· Die Serie verlangt zu viel muttersprachlichen Kommentar. (6 Nennungen)

3. Probleme der Didaktisierung (17):

· Die Lehrenden in Brasilien und Argentinien bemängelten, daß ein Lehrerhandbuch mit Zusatzinformationen und Didaktisierungen fehlt (11 Nennungen)

(Entsprechendes Zusatzmaterial wurde aufgrund und entsprechend dieser Kritik erstellt.)

· Lernende eines Kurses in Italien merkten an, den Film nicht oft genug gesehen zu haben und kritisierten die fehlende Didaktisierung. (6 Nennungen)

4. Der Materialumfang (10):

· Lernende und Lehrende kritisierten den geringen Umfang des Materials: "Es geht nicht weiter." "Es ist zu kurz." (10 Nennungen)

5. Technische Probleme (3):

· Lernende in Brasilien arbeiteten mit einer noch nicht nachsynchronisierten Version der Serie. Es wurden akustische Probleme beklagt. (2 Nennungen)

· Eine Lehrerin in Brasilien erwähnte die an ihrem Institut fehlenden Videogeräte.

Die Antworten auf die Frage

3. Was hat Sie persönlich am meisten an der Serie interessiert? Worin liegen für Sie die Stärken des Films?

konnten zu folgenden Themengruppen gebündelt werden:

1. Inhaltliche Aspekte (156 Nennungen)

156 Notierungen bezogen sich ausdrücklich auf inhaltliche Kriterien, wobei die künstliche Trennung der Kategorien Form und Inhalt hier als ein Behelf konstruiert wird, der auf tradierte Ordnungsmuster reagiert, die gerade im didaktischen Film nachhaltige Spuren hinterlassen haben. Selbstverständlich sind folgende Kriterien notwendig an eine Form gebunden, ohne die die Inhalte nicht als Stärke des Films hätten bewertet werden können.

· Die überwiegende Mehrzahl der Nennungen bezog sich auf die komplexe sozialrealistische und sozialpsychologische Thematisierung alltäglichen Lebens in Deutschland. 95 Antworten nannten direkt diese inhaltliche Komponente. Gewählt wurden Formulierungen wie "soziale Problematik"(14 Nennungen), "soziale Mischung", "Menschenschicksale", "soziologisch interessant", "Menschen stehen im Mittelpunkt", "viele Identifikationsmöglichkeiten" (insges. 29 Nennungen) "Privatsphären, Einblick in private Welten" (6 Nennungen), "komplex, vielschichtig" (5 Nennungen), "deutscher Alltag heute"(23 Nennungen), "realistisch, glaubwürdig" (18 Nennungen).

· In einer zweiten Hauptgruppe, die inhaltliche Aspekte berührte, wurden emotionale Reaktionen auf die Serie formuliert (insgesamt 44 Nennungen). Den Ausdruck "spannend" wählten lediglich die Lehrenden (10 Nennungen). Lernende bevorzugten eher Ausdrücke wie "läßt mitfühlen", "bewegend", "interessant", "unterhaltsam" oder undifferenzierte Gesamturteile wie "einfach phantastisch", " einfach gut". Insgesamt überwogen die Lehrenden auch in dieser Untergruppe mit 18 Nennungen gegenüber den Lernenden mit nur 9 Nennungen. Als "stark motivierend", "regt zum Nachdenken an" beschrieben dagegen Lernende ihre Reaktionen auf den Film (7 Nennungen).

· In Äußerungen wie "bringt Deutschland nahe", "informiert", "Deutschland wird stofflich, plastisch" oder "Deutschland träumen"vermischt sich die Bedeutung landeskundlicher Information mit den Emotionen, die sie hervorruft (16 Nennungen: 10 Lernende, 6 Lehrende).

2. Dramaturgie, Ästhetik, Stil (106 Nennungen)

Während für Lehrende und Lernende gleichermaßen inhaltliche Aspekte von größter Bedeutung waren, zeigten sich erhebliche Unterschiede bei der Gewichtung ästhetischer Kriterien. Während 66 Nennungen der Lernenden sich auf stilistische Kategorien bezogen, waren es bei den Lehrenden lediglich 40. Die meisten davon schätzten die unterrichtsgerechte Seriendramaturgie. Die ästhetischen Eigenschaften wurden in der Regel weniger als eigenständige Qualitäten gewürdigt, sondern zweckrationalistisch funktionalisiert.

Mit insgesamt 106 Nennungen erhalten formale Aspekte zwar etwas weniger explizite Anerkennung als inhaltliche, Inhalt und Ästhetik bilden jedoch im Vergleich mit anderen Beurteilungskriterien die zwei großen Blöcke, auf die es offenbar ankommt.

Dabei kristallisierte sich im Verhältnis zwischen inhaltlichen und formalen Kriterien bei den Lernenden mit 90:61 Nennungen eine deutlich ausgewogenere Gewichtung (3:2)

heraus als bei den Lehrenden mit 92: 45 Nennungen (2:1).

Läßt man die didaktisch besonders vorteilhaften Charakteristika `Serienreiz' und `elliptisches Erzählen, Cliffhanger' unberücksichtigt, stehen die Nennungen von Lernenden und Lehrenden, die ästhetische Aspekte berühren, in einem Verhältnis von 50:16 bei 42 lernenden und 39 lehrenden Testpersonen.

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Abbildung 18: Die Gewichtung ästhetischer Kategorien

Damit bestätigte sich die in den Vortests gemachte Erfahrung, daß Lernende Sprachlehrfilme mit einer ähnlichen oder identischen Rezeptionserwartung und -haltung betrachten und beurteilen, mit der sie auch nicht-didaktische Filme ansehen. Sprachlehrende scheinen möglicherweise zumindest dann, wenn sie sich in ihrer Funktion als Lehrpersonen wahrnehmen, visuellen Informationen gegenüber tendenziell weniger aufgeschlossen zu sein als ihre Zielgruppe. Diese Hypothese müßte gleichwohl durch eine größer angelegte Untersuchung verifiziert werden.

Folgende formale Aspekte wurden genannt:

· Die Qualität der Bilder oder die Wahl der Einstellung, die Dominanz der Gesichter im Film und ungewöhnliche Kameraperspektiven, auch die Sorgfalt der Kameraarbeit wurden erwähnt (14 Lernende, 4 Lehrende).

· 13 Nennungen bezogen sich auf die Erzählhaltung, die dem Film zugrundeliegt. Sie wurde als sympathisch und ironisch bezeichnet. Einige erkannten eine "liebevolle Zuwendung zu den Figuren" (10 Lernende, 3 Lehrende).

· Die Sichtbarkeit einer Autorenhandschrift, die filmästhetische Eigenständigkeit stellte für 8 Lernende und einen Lehrenden eine besondere Qualität dar (9).

· Das Serienkonzept und der Serienreiz wurden 21 mal erwähnt (6 Lernende, 15 Lehrende).

· 17 Personen (5 Lernende, 12 Lehrende) favorisierten die elliptische Erzählweise, Mehrsträngigkeit und Cliffhanger. ("Jede Szene endet mit einer Frage.")

· "Die Klarheit der Situationen", "die Einfachheit der stilistischen Mittel" und "die Einfachheit der Inszenierung" wurden als stilistische Mittel geschätzt (5 Lernende, 2 Lehrende).

· Die Musik erwähnten 5 Lernende und ein Lehrender.

· Die Darsteller; 9 mal wurde als besondere Stärke des Film erwähnt, daß er mit Laiendarstellern arbeitet (3 Lernende, 6 Lehrende).

· 3 mal wurde der Filmschnitt gewürdigt (2 Lernende, 1 Lehrperson), 1 mal die Qualität der Beleuchtung (1 Lerner). 1 Lerner nannte die Landschaftsaufnahmen, 1 mal wurde ein intertextueller Verweis angeführt: Ein italienischer Student fühlte sich an die in Italien äußerst beliebte Krimi-Reihe aus Deutschland "L'ispettore Derrick" erinnert.

3. Aspekte des Sprachenlernens

Einen eher marginalen Stellenwert nahmen bei den offenen Fragen Aspekte des Deutschlernens ein. 41 mal standen funktionalisierende Kriterien des Sprachenlernens im Vordergrund der Filmrezeption. 24 Antworten kamen von Lernenden, 17 von Lehrenden.

· 12 Lehrpersonen und 2 Lernende erwähnten die gute und vielseitige Didaktisierbarkeit der Serie.

· 11 mal wurde die Einfachheit und gute Verständlichkeit der Sprache aufgeführt. (2 Nennungen von Lehrenden)

· 10 mal wurden die lebendige Aussprache ("wirkliches", "richtiges Deutsch") und die Natürlichkeit und Lebensnähe der Dialoge genannt. (2 Nennungen von Lehrenden)

· 3 Lernende schätzten insbesondere, daß die Serie gerade für sie als Anfänger geeignet wäre.

· 3 mal wurde die besondere Qualität des Videos darin gesehen, eine gute Lernhilfe und Gedächtnisstütze zu sein

3.4.2.4.3 Ergebnisse der offenen Fragen

Die mit Abstand wichtigste Qualität der Serie liegt nach der vorliegenden Untersuchung in ihrer Konstruktion eines möglichst komplexen sozialen Tableaus, das dem Zuschauer einen Zugang zum privaten Leben der Protagonisten ermöglichte. Das Stichwort Lebensnähe kann diesen Aspekt pointiert ausdrücken. Modifiziert wird er durch das Interesse am Leben im Land der Zielsprache. Die Formulierung `die Nähe zum Leben im Land der Zielsprache' wird beiden Kriterien gerecht. Dabei impliziert der Begriff `Nähe' zugleich einen starken emotionalen Bezug - eben den des `Miterlebens'- , der von den meisten Testpersonen zum Ausdruck gebracht wurde. Das Kriterium der Glaubwürdigkeit stellte sich dabei als notwendige Bedingung für ein Nähe-Gefühl heraus.

Ein weiteres Hauptgewicht lag auf den ästhetischen Qualitäten der Serie. Das Verhältnis von Inhalt und Form kann durch eine Proportion von 3:2 beschrieben werden.

Lediglich 14% der Antworten funktionalisierten den Film als Vehikel eines didaktischen Inputs, obwohl sämtliche Testpersonen die Frage nach der Nützlichkeit für den Spracherwerb positiv beantwortet hatten. Die Beurteilungskriterien der Lernenden unterschieden sich daher nicht nennenswert von denen eines Freizeitpublikums. Der pragmatische Ansatz, den Authentizitätskriterien folgend einen Film für Sprachunterrichtszwecke nach ähnlichen Kriterien zu gestalten wie einen Unterhaltungsfilm, findet in diesem Zahlenverhältnis eine Bestätigung.

hecht36.gif

Abbildung 19: Verhältnis der Beurteilungskriterien

Die Gewichtung der einzelnen Aspekte wies bei Lehrenden und Lernenden erhebliche Unterschiede auf. Bei den Lernenden fiel vor allem die stärkere Berücksichtigung ästhetischer Qualitäten auf.

[...]

3.4.3 Unterrichtsbeobachtung

In zwanzig Klassen mit durchschnittlich fünfzehn eingeschriebenen Lernenden des Goethe-Instituts Rio de Janeiro - von der Anfänger- bis zur Konversationsstufe - wurde Hauptstraße 117 teils systematisch unterrichtsbegleitend, teils einige Unterrichtsstunden tragend, teils einmalig ohne Didaktisierung von März bis Mai 1993 eingesetzt. Die Art des Einsatzes hing von der Entscheidung der jeweiligen Lehrperson ab. Die Forscherin nahm am Unterrichtsgeschehen beobachtend teil.452 An die Einsatzphase mit Hauptstraße 117 schlossen sich jeweils Gruppendiskussionen an, die im weiteren Verlauf beschrieben werden.

Die Ausgangsfragen der teilnehmenden Beobachtung waren folgende:

1. Wie verläuft die Rezeption des Films Hauptstraße 117 in einem Land, dessen räumliche Distanz zu Deutschland sehr groß ist und dessen soziokulturelle Gegebenheiten und historische Erfahrungen von denen des Landes der Zielsprache stark abweichen? Lassen sich Wirkungsweisen charakterisieren?

2. Wie binden Lehrer/innen unter den Rahmenbedingungen vor Ort die Serie in ihr didaktisches Konzept ein?

3. Welche Probleme lassen sich erkennen?

Die Unterrichtsbeobachtungen wurden zum Teil während des Unterrichts skizziert, unmittelbar nach dem Unterricht durch ein Kurzprotokoll festgehalten, danach (am selben Tag) zu einem ausführlichen Protokoll ausgearbeitet. Die Phasen der Filmrezeption konnten in einigen ausgewählten Klassen teilweise audiovisuell aufgezeichnet werden.

Die Vorgehensweise, die durch die Forscherperspektive strukturiert wurde, stellte sich bei diesem Untersuchungsabschnitt als besonders problematisch heraus. Die Beeinflussung der Lernerreaktionen durch die Anwesenheit einer `echten' Deutschen, die dazu noch ihr eigenes Material vorstellte, war evident. Doch nicht allein das begründet die Entscheidung, daß die Protokolle der teilnehmenden Unterrichtsbeobachtung nicht in die Auswertung integriert wurden. Bekanntermaßen findet bereits mit der Registrierung von Ereignissen eine erste - unbewußte - Auswertung statt.453 Aufgrund der zu unterstellenden besonderen Interessendisposition der Forscherin wiegt die Selektionsproblematik hier besonders schwer. Sie konnte durch den intersubjektiven Vergleich mit den Erfahrungen der nicht spezifisch interessierten Lehrenden jedoch überwunden werden. Die teilnehmenden Unterrichtsbeobachtungen fügen keine wesentlichen Aspekte zu den Erfahrungen der Expert/innen hinzu, sondern sie bestätigen die Expert/innenaussagen im großen und ganzen. Die methodisch fragwürdige Verfahrensweise konnte daher durch die angemessenere quasi verlustfrei ersetzt werden.

Als Vorbereitung auf eine sachkompetente Durchführung der Expert/inneninterviews konnte auf die aus der eigenen Anschauung gewonnenen Erfahrungen gleichwohl nicht verzichtet werden. Außerdem lieferten sie immer wieder praktisches Illustrationsmaterial zur Veranschaulichung der theoretischen Argumentation.

Drei eindeutige, grundsätzliche Antworten, die die praktischen Erfahrungen der Expert/innen bestätigen, seien als kurzes Resümee auf die Ausgangsfragen gegeben:

1. Die Filmrezeption entsprach der authentischen Rezeption vor einem muttersprachlichen Publikum in Wuppertal. Sie entsprach auch den Ergebnissen der Experteninterviews. Das heißt, Dramaturgie, Stil und Inhalt wurden akzeptiert und Reaktionen waren - bei allen individuellen Rezeptionsdifferenzen - tendenziell vorhersehbar. Die ästhetischen Eigenheiten der elliptisch erzählten Serie Hauptstraße 117 wurden als Qualität des Produkts wahrgenommen und konnten als eine individuelle, originelle Variante traditioneller Seriengestaltung - zumindest bei der Handhabung im Unterricht, in dem die Folgen immer wenigstens einmal wiederholt wurden - ohne Probleme rezipiert und dekodiert werden.

2. Die jüngeren Lehrenden erwiesen sich tendenziell als aufgeschlossener für den Videoeinsatz als die Älteren.

Einige Lehrer/innen erklärten sich erst nach positiven Erfahrungen der Kolleg/innen zu einem Unterrichtsversuch bereit. In diesen Fällen wurde die Forscherin gebeten, die Unterrichtsphase mit dem Film didaktisch zu gestalten.

Die Erfahrungen der Lehrenden mit Video im Unterricht waren vollkommen verschieden, ebenso die individuellen Didaktisierungskompetenzen.

Gleichermaßen unterschiedlich waren Unterrichtsstile und -methoden. Neben kommunikativen, lernerzentrierten Unterrichtsmodellen stand klassischer, grammatikdominierter Frontalunterricht.

Der Einsatz von Video wurde, im Gegensatz zur Benutzung von bestimmten Audio- und Printmedien, institutionell weder vorgeschrieben noch gefördert.

3. Einige Lehrende befürchteten, der Filmeinsatz könne sie "zu viel Zeit kosten", so daß der Lernstoff zu den in Rio üblichen Tests jeweils in der ersten Hälfte und nach Ablauf eines Semesters nicht vollständig vermittelt werden könne. Die Befürchtung hielt sie vom Einsatz von Video ab. Objektiv erwies sich die Furcht jedoch als unbegründet. In zwei der fünf Anfängergruppen wurde die Serie systematisch parallel zum Lehrbuch Themen neu 1 eingesetzt. Trotz eines im Vergleich zum Buch etwas erweiterten Lernpensums - der Film wurde parallel zur älteren, leicht abweichenden Lehrbuchversion Themen 1 gedreht - bestanden die Lernenden der Versuchsgruppen ohne Unterschiede zu den Kontrollgruppen den Test, der in die Versuchsphase fiel.

Gleichwohl ist das Argument von Lehrenden, für den Einsatz von Film keine Zeit zu haben, als der gravierendste Hinderungsgrund für den Einsatz von Video einzuschätzen. Hier stimmen, unabhängig vom Land, in dem der Unterricht erteilt wird, Aussagen in den Experteninterviews oder Begründungen von Lehrenden, die den Film nicht einsetzten, mit den Erfahrungen in Rio de Janeiro überein. In Rio lag der Idealfall vor, daß es sich - mit sehr geringfügigen Abweichungen - um einen parallel zum dort eingesetzten Lehrwerk konzipierten Film handelte, der eine Alternative zu Übungen im Buch darstellt, also keinzusätzliches Material lieferte, sondern den Lernstoff in einer alternativen, attraktiveren Form anbot. Dieses Konzept wurde den Lehrenden praktisch vorgeführt und theoretisch beschrieben, bevor sie sich für oder gegen eine Erprobung entschieden. In einigen Fällen reichte die Information, die lediglich theoretische Einsichten vermitteln kann, nicht aus. Die betroffenen Lehrpersonen warteten den Unterrichtsverlauf in den Testgruppen ab und baten dann um Demonstrationsstunden in ihren Kursen. Das Zeit-Argument spielte daraufhin keine Rolle mehr. Als eigentliche Gründe für die Abwehrhaltung erwiesen sich die Angst vor neuen Verfahren und Berührungsängste mit moderner Technik, aber auch Ängste vor organisatorischen Problemen.

3.4.3.1 Die Videoprotokolle

Als methodisch brauchbar erwiesen sich die Videoprotokolle.

Während der Videorezeption wurden die Lernenden in drei Anfängerklassen mit ihrem Einverständnis gefilmt.

Die zentrale Frage, die durch die Videoprotokolle untersucht werden sollte, lautete:

· Welche Hinweise auf emotionale Aktivierungen lassen sich erkennen, die nicht durch Aufgabenstellungen oder andere Didaktisierungsleistungen verursacht werden, sondern im Film selbst liegen? Welche Leistung erbringt der Film quasi ohne das Einwirken der Lehrperson?

Diese Interessenfokussierung hat eine anwendungsbezogene Bedeutung. Bei einer intelligenten didaktischen Plazierung und Vorgehensweise kann auch mit unzulänglichem Material ein sinnvoller Unterricht gestaltet werden. Hier jedoch ging es um die Frage, wie filmisches Material gestaltet werden sollte, damit sein potentieller Nutzen optimal in einem wie auch immer angelegten Unterricht wirksam werden kann.

Deshalb wurde bei den Unterrichtsversuchen auf filmspezifische Didaktisierungen verzichtet. Simuliert wurde quasi ein Unterricht, der der Lehrkraft so gut wie keine Vorbereitungszeit abverlangt. Die Fragestellungen zum Film bezogen sich lediglich auf das Hörverständnis. Ein derartiger Einsatz stellt selbstverständlich kein Unterrichtsdesiderat dar, er imitiert jedoch die weltweit vermutlich vorherrschende Unterrichtsrealität.

Der Vorteil des Verfahrens lag darin, daß überprüft werden konnte, wie Lernende auf welche filmischen Reize reagieren. Die Frage nach der Einschätzung der Qualität und Stärke der emotionalen Stimuli, über die bislang nur die Fragebögen und die Experteninterviews einige im ersten Falle sehr grobe, im zweiten Fall durch die subjektive Einschätzung der Experten gefilterte Aussagen machten, erhält hier eine neue Antwortfacette. Zum ersten (und einzigen) Mal im vorliegenden Design besteht die Möglichkeit, eine direkte Koppelung von audiovisuellem Reiz und Reaktion analysieren zu können. Auch hier liegen lediglich indikative Ergebnisse vor. Die Ergebnisse dürfen zudem nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur im Zusammenhang mit dem Gesamtdesign der Studie.

Das Datenmaterial krankt gleichwohl an Unzulänglichkeiten des Verfahrens der Datenprotokollierung. Die Grenzen einer audiovisuell unterstützten Beobachtung im Feld sind bekannt. Im vorliegenden Fall waren es im wesentlichen folgende:

· Bei nur einer Kamera454, die über die Gesichter der Zuschauenden schwenkt, findet eine zufällige Selektion statt.455

· Durch Unschärfen wird die Kontinuität des Protokolls durchbrochen.

· Die Kamera verursacht Befangenheit bei den Lernenden. Die aktive Teilnahme am Unterricht nach der Filmrezeption wurde durch die Kamerapräsenz deutlich beeinflußt. Deshalb wurde nach ersten Versuchen auf eine Dokumentation des gesamten auf den Film bezogenen Unterrichtsgeschehens verzichtet. Die Unterrichtsbeobachtungen machten deutlich, daß der Einfluß der Kameraanwesenheit auf die Lernenden während der äußerlich passiven Filmrezeption im abgedunkelten Raum dagegen zu vernachlässigen ist. Es gab, abgesehen vom ersten Kameraeinsatz, keine nennenswerten Hinweise darauf, daß die Lernenden während der Filmrezeption von der Kamera abgelenkt wurden oder ihre nonverbalen Reaktionen zurückhielten.

· Die Videoprotokollierung konnte aufgrund der Rahmenbedingungen vor Ort nicht systematisch durchgeführt werden.

· Ein Teil des Filmmaterials ging auf dem Postweg nach Deutschland verloren.

Die Testgruppen

Ausgewählt wurden zwei Anfängergruppen des Goethe-Instituts Rio de Janeiro: ein Extensivkurs und ein Intensivkurs. Der Film wurde ein- bis zweimal pro Woche eingesetzt. Im Intensivkurs hatte der Filmeinsatz vornehmlich eine den Lernstoff wiederholende Funktion. Die Lerner/innen waren mit ihrem Buch etwa zwei Lektionen voraus. Im Extensivkurs wurde die Serie parallel zum Lehrwerk eingesetzt.

Es waren in Absprache mit den Lehrkräften jeweils 15 Minuten pro Unterrichtseinheit für den Filmeinsatz reserviert, im Intensivkurs am Ende einer Lehreinheit, im Extensivkurs am Anfang. Die Filmvorführung erfolgte lediglich jeweils einmal wiederholt vor dem Hintergrund Hörverständnis-überprüfender Fragen. Die in Brasilien weitgehend unbekannte Problemsituation der Bevölkerungsgruppe, die die Familie Tomasek repräsentiert, wurde jeweils kurz in der Muttersprache erläutert.

3.4.3.1.1 Das Auswertungsverfahren

Die Filmdokumente haben den Vorteil, daß sie im Gegensatz zu den mit den sogenannten `weichen' Methoden erhobenen Daten, die selbstverständlich immer auch angreifbar und aufgrund mangelnder Repräsentativität `negotiabel' sind, einen sinnlichen Eindruck tatsächlich stattgefundener Rezeption vermitteln und flüchtige Verhaltensphänomene fixieren. Sie können nicht geleugnet oder abgeschwächt werden.456

Wie bei den physiologischen Meßmethoden der Wirkungsmikroskopie ist die Auswertung audiovisueller Daten nur möglich in Relation zu Ausgangswerten und zu Werten, auf die die Erregung nach der Reizeinwirkung zurückgeht.457 Sie bilden quasi den `Erregungshintergrund'. Optisch wahrnehmbare Erregungsveränderungen lassen sich im Verhältnis zu diesem Erregungshintergrund und nur darin bestimmen.

Analysierbar sind vor allem universell gültige emotionale Gesichtsausdrücke für Primär-Emotionen (Freude, Erschrecken, Angst, Rührung usw.) und jeweils wieder in Relation zu den Ausgangswerten beurteilbare Veränderungen der Körperhaltungen und grundsätzlich die Menge von Bewegungen. Alle wahrgenommenen Daten sind zudem kontextabhängig zu beurteilen.

Das Fehlen von sichtbaren Zeichen der Erregung läßt nicht den Schluß auf eine fehlende Erregung zu. Die Interpretation fehlender Zeichen kann lediglich unter Zuhilfnahme von Erlebnisaussagen und physiologischen Befunden relevant werden. Aufgrund dieser Besonderheit erwies sich die Dokumentation einer kollektiven Rezeption als erheblich aussagekräftiger, als es die Aufnahme einzelner Personen beim Zuschauen gewesen wäre. Denn in der Gruppe befinden sich Menschen, die ihre innere Bewegung in ganz unterschiedlichem Maße optisch sichtbar werden lassen. Auf diese Weise ist es möglich, quasi einen kollektiven Ausgangswert festzustellen, von dem Abweichungen in der Gruppe insgesamt erkennbar werden.458 Rein individuelle Ausdrucksweisen, die ohne eine genaue Personenkenntnis nicht korrekt entschlüsselbar sind und deren Analyse daher methodisch unzulässig wäre, werden bei dieser Verfahrensweise nicht interpretiert.459 Die kollektiven Veränderungen stehen im Mittelpunkt des Interesses und sind in Relation zu den Ausgangswerten meßbar.

Die hier abgebildete Datenauswahl richtet sich daher nach folgender Systematik:

Zunächst wird eine `normale' Rezeptionshaltung als Vergleichswert dokumentiert.

Dann folgt, entsprechend der Rezeptionschronologie, die Dokumentation sämtlicher am Bildmaterial feststellbarer und im Printmedium abbildbarer kollektiver Abweichungen vom Vergleichswert. Die Auswahl des Bildmaterials erfolgte intersubjektiv. Neben die ausgewählten Bilder wurde der zugehörige Filmton bzw. die zugehörige Bildsequenz gesetzt, so daß der filmische Reiz und die nonverbale Reaktion in Beziehung zueinander gesetzt werden konnten.

Eine Einschränkung der methodischen Systematik liegt in der schon erwähnten Lückenhaftigkeit des Bildmaterials aufgrund technischer Probleme. Es konnten nicht alle vom `Erregungshintergrund' abweichenden Reizreaktionen am Beispiel dieser ersten drei Folgen dokumentiert werden. Da die Unschärfen und Reißschwenks jedoch ohne auffällige Konzentrationen über alle Folgen verteilt waren, läßt sich das Material immanent vergleichen.

Eine weitere Einschränkung der Aussagekraft des Bildmaterials liegt im Problem der technischen Übertragbarkeit von Videomaterial in die Printform. Hier waren erhebliche Qualitätsverluste unvermeidlich. Das führt gelegentlich zu Verzerrungen des Eindrucks. Sehr kleine Bewegungen sind im Printmedium häufig nicht dokumentierbar. Das macht sie nicht minder aussagekräftig. Maßgeblich ist in solchen Fällen daher das eigentliche Dokument: das bewegte Bild. Die Bilder sind deshalb gelegentlich auf einen klärenden Kommentar angewiesen.

Die Kurzbezeichnungen zu den Abbildungen haben einen Schlüssel: `f` heißt Folge, die sich anschließende Ziffer bezieht sich auf die Folgennummer, dann folgt nach einem Komma die Bildnummer. Die Zahl 2 vor dem `f' kennzeichnet die Rezeptionsvariante im Extensivkurs. Der Kürzel `n' und `u' vor der Bildnummer stehen für `neutral' beziehungsweise für `Unruhe/Störung'.

3.4.3.1.2 Datenauswertung

[...]

Gruppe 1; 3. Folge

Zeichen für emotionale Aktivierung

63.gif

Abbildung 63: f3, 1

Situation Folge 3, Bild 2:

Elsbeth begrüßt die Kinder im Treppenhaus: "Guten Tag, Kai Lino..."

Mittel:

Emotionalisierung.

Reaktion:

Lächeln. Bewegung.

Heben des Kopfes.

Aktivierungsschub für den folgenden Dialog.

64.gif

Abbildung 64: f3, 2

Situation wie oben:

"Guten Tag, Jenny"

Mittel wie oben.

Reaktion:

Lachen, Vorbeugen.

Aktivierungsschub wie oben.

65.gif

Abbildung 65: f3, 3

Situation wie oben:

Susanne, sehr zurückgenommen, fast flüsternd: "Er findet nichts."

Mittel:

Intensivierung, Emotionalisierung.

Reaktion:

Grimasse. (Verständnisprobleme).

Aktivierung durch zu lernendes Element

(Wiederholung wird verlangt. Befriedigtes Nicken folgt.)

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Abbildung 66: f3, 4

Situation wie oben.

Erklärung und Wiederholung der Replik.

Reaktion:

Zuwendung. Kommunikationswunsch.

Nicken. Lächeln. (Befriedigung)

67.gif

Abbildung 67: f3, 5

Situation Folge 3, Bild 5:

Cordula zieht sich in die Gästetoilette zurück.

"Entschuldige mal eben!"

Mittel:

Kollation.

Reaktion:

Schmunzeln

Aktivierung durch zu lernendes Element.

68.gif

Abbildung 68: f3, 6

Situation wie oben:

"Sind die Möbel alle neu?"

Der Butler erscheint im Bild.

Mittel:

Kollation.

Reaktion:

Lächeln.

Aktivierung durch zu lernendes Element.

69.gif

Abbildung 69: f3, 7

Situation wie oben:

Cordula legt sich, Bein zeigend, aufs Sofa.

Mittel:

Emotionalisierung.

Reaktion:

Lächeln.

Aktivierungschub für folgenden Dialog.

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Abbildung 70: f3, 8

Situation wie oben:

Ulli trötet.

Mittel:

Kollation

Reaktion:

Lachen.

Eingestreute Aktivierung zur Emotionalisierung der Figur.

71.gif

Abbildung 71: f3, 10

Situation Folge 3, Bild 6:

Älterer Herr macht sich schön für die wartende Elsbeth Hinz.

Mittel:

Emotionalisierung, Kollation, Aha-Effekt.

Reaktion:

Lächeln, Zuwendung.

Aktivierungsschub für folgende Replik.

72.gif

Abbildung 72: f3, 11

Situation wie oben:

Älterer Herr macht sich schön für die wartende Elsbeth Hinz.

Mittel wie oben.

Reaktion:

Lächeln, Bewegung (Berührung des Haars).

Aktivierungsschub wie oben.

73.gif

Abbildung 73: f3, 9

Situation Folge 3, Bild 6:

Der ältere Herr erscheint im Café.

Mittel:

Emotionalisierung, Aha-Effekt.

Reaktion:

Lächeln, Körperbewegung

(Berührung und Spannung der Brustmuskulatur).

Aktivierungsschub für eigene Sprachproduktion.

74.gif

Abbildung 74: f3, 12

Situation wie oben.

Cliffhanger.

Mittel:

Emotionalisierung, Aha-Effekt.

Reaktion:

Lachen. Bewegung

(Zurücklehnen, Niederschlagen der Augen).

Aktivierungsschub wie oben.

3.4.3.1.3 Ergebnisse

In der ersten Folge konnten neun Impulse für eine Erregungsaktivierung dokumentiert werden. Die typischen Kennzeichen waren Lachen, Lächeln und Zuwendung zum Nachbarn. In allen erfaßten Fällen wurde von intensivierenden Elementen wie Großaufnahmen, Detailaufnahmen, Bewegung, Steigerung der Schnittgeschwindigkeit, auffälliger Perspektive u. a. Gebrauch gemacht. In sieben Fällen spielte das Moment der Kollation eine besondere Rolle. Fünfmal wurden besonders emotional anregende Mittel eingesetzt: Bei der Arbeitsamtsszen

e sowie bei der Szene mit den Kindern waren das Stimuli der Verbotsübertretung und der Erotik (Mißachtung des Rauchverbots, der tätowierte Mann/ sein Goutieren der weiblichen Rückenansicht, der Pfiff, das Fesseln und Bespritzen des Mädchens). Die Stimuli basieren teilweise auf Effekten, die nicht an den narrativen Kontext gebunden sind. (Die Ausgestaltung der Arbeitsamtssequenz.) Sie dienen zum einen als Initialaktivierung, um die Akzeptanz der Serie positiv zu beeinflussen und Lust aufs Weitersehen zu machen, andererseits bereiten sie ein erhöhtes Erregungniveau für die sprachliche Informationsaufnahme vor.

In der zweiten Folge konnten lediglich zwei Aktivierungsspitzen (drei Dokumente) registriert werden. Die erste ist nicht übertragbar auf andere Regionen (das brasilianische Volkslied). Sie wird im Endergebnis daher nicht registriert. Die zweite wurde bei der dramatischen Klimax am Folgenende festgestellt. Während der Blick auf das Filmgeschehen konzentriert war, verrieten die dokumentierten Bewegungen eine Aufmerksamkeitssteigerung. Der Impuls war emotional: eine Krisensituation. Möglicherweise wurde auch ein kollatives Moment wirksam.463

Dagegen wurden fünf Reaktionen registriert, die auf eine - gemessen am Ausgangswert ­ nachlassende Erregung schließen lassen. Alle Reaktionen hatten denselben Impuls: die an dieser Stelle ohne didaktische Einbindung zu ausgedehnte Wohnungsbesichtigung Susannes. Die Sequenz ist in ihrer Länge nicht dramaturgisch, sondern didaktisch motiviert und unterbricht die ästhetische Kohärenz. Das Hauptmerkmal der Reaktionen: Die Konzentration des Blicks wird einen Moment lang unterbrochen.

Während bei allen anderen Folgen ein durch den filmischen Reiz selbst verursachtes Nachlassen der Aufmerksamkeit in der Gruppe nicht feststellbar war464, traten bei der langen, sowohl dramaturgisch wie schnittechnisch relativ aktionslosen Einstellung gehäuft Anzeichen für einen Erregungsrückgang auf. Diese Reaktion änderte sich zwar gänzlich, wenn die Lernenden anregende Aufgaben zu der Sequenz erhielten.465 Dennoch illustriert das Filmmaterial, welche Konsequenzen die Mißachtung filmsemiotischer Konventionen hat, und belegt indirekt die aufmerksamkeitssteigernde Wirkung von Intensivierung, Emotionalisierung, Aha-Effekt und Kollation.

Bei der Bildanalyse muß freilich berücksichtigt werden, daß der Gesamteindruck, den die Gruppe während der Rezeption liefert, der einer aufmerksamen Sehhaltung ist. Sämtliche Ablenkungen wurden hier zusammengestellt. Sie bilden selbstverständlich nicht das Rezeptionsgeschehen ab. Für einen filmimmanenten Vergleich, der in einer Mikroanalyse unterschiedliches Verhalten auf verschiedene Stimuli herausfiltern möchte, sind sie jedoch relevant und aussagekräftig.

In der dritten Folge lassen sich wieder neun Impulse für eine Erregungsaktivierung zählen. Sechsmal dominiert dabei der Faktor Emotionalität. Während in der ersten Folge die Emotionaliät (wie im Werbefilm) kontextungebundene Auslöser hatte (Verbotsüberschreitung/ Erotik), ist sie hier schon weitgehend an die sich entwickelnden Geschichten gekoppelt. Das zweite Bild etwa, die Sequenz mit den Kindern, Susanne und Frau Hinz, erhält seine emotionalisierende Wirkung vornehmlich durch die Vorinformationen aus der ersten und zweiten Folge, in denen das bloße Auftreten der Kinder noch keinen Aktivierungsschub verursachte. Es bedurfte dort noch der Koppelung an einen kollativen Effekt.

Durch Erotik ausgelöst wird die Erregung in der Sequenz, in der sich Cordula aufs Sofa legt. Diesen Aspekt erfüllt zwar - freilich auf andere Weise - auch die Schlußsequenz, in der Elsbeth Hinz den älteren Herrn erwartet, doch auch hier spielt schon das Moment der Kontextualisierung eine Bedeutung. Die Information aus der ersten Folge, die Elsbeth Hinz putzend zeigt, ermöglicht es erst, aus ihrer besonders gepflegten Erscheinung in der dritten Folge Schlüsse zu ziehen. Ein Interesse an ihrer Person durch Sympathieerzeugung wurde im übrigen durch ihre Begegnung mit den Kindern geweckt.466 Erst durch diese semiotische Vernetzung und Dekodierung wird die erotische Relevanz der Sequenz deutlich. Ein seriencharakteristischer Aha-Effekt stellt sich hier erstmals ein.

Die drei simplen Kollations-Effekte, ausgelöst durch Cordula und Ulli, sind noch, wie in der ersten Folge, relativ kontextungebunden. Die Betrachtung der Kontextgebundenheit oder -ungebundenheit ist insofern von Bedeutung, als sich kontextungebundene Reize, die stark auf das Kollationsmoment angewiesen sind, abnutzen.467 Die Kontextbindung verstärkt jedoch die Wirkung, wie die fotografische Rezeptionsdokumentation veranschaulicht.

[...]

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zirkelprozeß der Untersuchung 22

Abbildung 2: Gewichtung der Sprachfunktionen in Lehrbuch-
und E­Mail-Texte 45

Abbildung 3: Analogien und Kontraste in `Short Cuts' 75

Abbildung 4: Die wichtigste Eigenschaft eines Films 220

Abbildung 5: Schülerarbeit aus Frankreich 277

Abbildung 6 : Schülerarbeit aus Frankreich 279

Abbildung 7: Schülerarbeit aus Frankreich 281

Abbildung 8: Verhältnis von positiven und negativen Beurteilungen 296

Abbildung 9: Positive und negative Beurteilungen in Italien und
Brasilien (bereinigt) 298

Abbildung 10: Negative und positive Charakteristika von
`Hauptstraße 117` 299

Abbildung 11: Verhältnis inhaltlicher und ästhetischer Nennungen 300

Abbildung 12: Negative und positive Charakteristika von
`Hauptstraße 117' in Deutschland (Kinopublikum) 302

Abbildung 13: Negative und positive Charakteristika von
`Hauptstraße 117' in Brasilien 303

Abbildung 14: Negative und positive Charakteristika von
`Hauptstraße 117' in Argentinien 304

Abbildung 16: Vermissensfrage 312

Abbildung 17: Verhältnis der genannten Aspekte 315

Abbildung 18: Die Gewichtung ästhetischer Kategorien 319

Abbildung 19: Verhältnis der Beurteilungskriterien 322

Abbildung 20: Verhältnis der Beurteilungskriterien zueinander.
Lehrende und Lernende im Vergleich 323

Abbildung 21: f1, n1 334

Abbildung 22: f1, n2 335

Abbildung 23: f1, n3 335

Abbildung 24: f1, n4 336

Abbildung 25: f1, n5 336

Abbildung 26: 2f1, n1 337

Abbildung 27: 2f1, n2 337

Abbildung 28: 2f1, n3 338

Abbildung 29: 2f1, n4 338

Abbildung 30: 2f1, n5 339

Abbildung 31: 2f1, n6 339

Abbildung 32: f1,1 341

Abbildung 33: f1, 2 342

Abbildung 34: f1, 3 343

Abbildung 35: f1, 4 344

Abbildung 36: f1, 5 345

Abbildung 37: f1, 6 346

Abbildung 38: f1, 7 347

Abbildung 39: f1, 8 348

Abbildung 40: f1, 9 349

Abbildung 41: f1, 10 350

Abbildung 42: 2f1, 1 351

Abbildung 43: 2f1, 2 352

Abbildung 44: 2f1, 3 353

Abbildung 45: 2f1, 4 354

Abbildung 46: 2f1, 5 355

Abbildung 47: 2f1, 6 356

Abbildung 48: 2f1, 7 357

Abbildung 49: 2f1, 8 358

Abbildung 50: 2f1, 9 359

Abbildung 51: f2, 1 360

Abbildung 52: f2, 2 361

Abbildung 53: f2, 3 362

Abbildung 54: f2, u1 363

Abbildung 55: f2, u2 364

Abbildung 56-60: f2, u3-7 365-367

Abbildung 61: f2, u8 368

Abbildung 62: f2, u9 369

Abbildung 63: f3, 1 370

Abbildung 64: f3, 2 371

Abbildung 65: f3, 3 372

Abbildung 66: f3, 4 373

Abbildung 67: f3, 5 374

Abbildung 68: f3, 6 375

Abbildung 69: f3, 7 376

Abbildung 70: f3, 8 377

Abbildung 71: f3, 10 378

Abbildung 72: f3, 11 379

Abbildung 73: f3, 9 380

Abbildung 74: f3, 12 381

[...]

Anhang

[...]

A3 Abdruck der Einführung in das Begleitmaterial des Goethe-Instituts zu Hauptstraße 117473
(mit freundlicher Genehmigung des Verlags, ohne Abbildungen)

Einführung

Entstehungsgeschichte

Wer gibt Amateuren Geld für einen Spielfilm? In der Regel niemand. Das Konzept allerdings überzeugte das Goethe-Institut und den Kommunalverband Ruhrgebiet: Eine Kopie der deutschen Fernsehserie "Lindenstraße" von H. W. Geißendörfer sollte es sein. Auf die didaktischen Anforderungen des Unterrichts abgestimmt.

Die "Lindenstraße" ist Seriendauerbrenner seit 1985 und hat ein völlig gemischtes Publikum gefunden. Ob Arzt oder Arbeiterin, Greis oder Jugendlicher: die "Lindenstraße" liefert einen Querschnitt der deutschen Wirklichkeit, der bei den unterschiedlichsten Zuschauern auf großes Interesse stößt. Ein Ende der Serie ist nicht in Sicht. Sie inszeniert das Leben deutscher Durchschnittsbürger in einem Mehrfamilienhaus: genau das, was im Ausland an Informationen über den deutschen Alltag fehlt. Die Idee wurde deshalb in "Hauptstraße 117" übernommen.

Einen Haken gab's natürlich bei unserer Miniserie: Es stand für einen Spielfilm nur sehr wenig Geld zur Verfügung. Das bedeutete, daß in "Hauptstraße 117" mit der tatsächlich vorhandenen Realität gearbeitet werden mußte. Und am Ende erwies sich gerade das als die Stärke des Films.

Das Haus

"Hauptstraße 117" ist ein Fachwerkhaus von ca. 1880 und steht in Velbert-Langenberg, einer recht typischen deutschen Kleinstadt mit 17.000 Einwohnern im niederbergischen Rheinland, nahe am Ruhrgebiet. Fachwerkhäuser sind charakteristisch für die Region. Sie sind aus einem Holzgerüst konstruiert, das mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh oder Ziegelsteinen ausgefüllt wird. Auf den ersten Blick erkennt man die in unserer Region meist schwarz-weißen Fassaden. Die teurere Version dieser Bauform verdeckt allerdings die Bausubstanz: kennzeichnend für die Bürgerhäuser ist eine Verkleidung aus grauem Schieferstein. Häufig gibt es eine Schmuckfassade aus Holzkassetten, wie "Hauptstraße 117" sie zeigt. Ihren bürgerlichen Glanz haben die alten Häuser heute meist verloren. Aus früheren Residenzen sind Mietskasernen geworden. Als Altbauten mit wenig Komfort, provisorisch nachträglich eingebauten Bädern, zugigen Fenstern und nicht abgeschlossenen Wohnungen liefern sie relativ billigen Wohnraum in dicht besiedelten Ballungsräumen, in denen Wohnungen knapp und teuer sind. Allerdings werden immer mehr Altbauten renoviert, seit es ein Denkmalschutzgesetz in Deutschland gibt, das den Abriß unrentabler Altbauten häufig verbietet. Die modernisierten Altbauten sind wiederum sehr begehrte und teure Mietobjekte. Da viele Altbauten etagenweise modernisiert werden, entstehen gerade dort sozial sehr gemischte Hausgemeinschaften, die viele Facetten deutscher Lebenswirklichkeit beherbergen. Und genau so ein Haus ist "Hauptstraße 117" und wurde damit für filmtauglich befunden. Das wichtigste Argument freilich: In "Hauptstraße 117" wohnt die Filmemacherin. Und sie steht sich gut mit den Mitbewohnern. Das bedeutete: Der Drehort kostet nichts.

Die Ausstattung

Die Hausbewohner ließen ihre Wohnungen aus- und umräumen und arrangierten sich für die Drehzeit etliche Tage lang mit den Heimen der Filmfiguren.

Katharina, die rothaarige Cordula im Film, besorgte die Ausstattung. Die unterschiedlichsten Bekannten stellten Requisiten zur Verfügung, Flohmärkte wurden abgegrast und Attrappen konstruiert. Die Wohnungen wurden dem jeweiligen sozialen Status entsprechend ausgestattet. Dabei orientierten wir uns an realen Vorbildern. Wohnungseinrichtungen sind in Deutschland nicht nur deshalb sehr wichtig, weil sich ein großer Teil des Lebens aufgrund des kühlen Klimas in Innenräumen abspielt. Für die Wohnungseinrichtung verschulden sich gerade Angehörige der unteren Einkommensklassen in beträchtlichem Ausmaß. Die Teilnahme an Einrichtungsmoden gibt vielen Deutschen Selbstbestätigung und ein Gefühl sozialer Integration und Individualität.

Vier Wohnungen in "Hauptstraße 117" stellen recht gut sichtbar unterschiedliche Einrichtungsstile und individuelle Wertmaßstäbe dar:

Brigittes Wohnung

Brigitte Kuglin lebt in einer sehr zweckmäßig eingerichteten Wohnung. Hier wird vor allem gearbeitet. Sie interessiert sich nicht für eine aufwendige Gestaltung. Zudem hätte sie gar kein Geld, das sie in die Wohnung investieren könnte. Die Kleider hängen an einer Stange, für die Wäsche gibt es eine Kommode. Bett, Schreibtisch mit Computer, Bücherregale, eine zusammengewürfelte Kochecke mit Herd, Kühlschrank und Spüle, ein winziger Eßtisch und ein langer Arbeitstisch sind das Nötigste, das Brigitte zum Leben und Arbeiten braucht. Es gibt kein Bild an der Wand, keine Pflanzen, keine Gardinen, keinen Stil. Brigitte legt keinen sonderlichen Wert darauf, mittels ihrer Wohnung zu demonstrieren, was für ein Mensch sie ist.

Die Wohnung von Tina und Ulli

Tina und Ulli repräsentieren mit ihrer Wohnung. Beide sind außerhalb berufstätig und in ihrer Freizeit viel unterwegs. Eigentlich benutzen sie ihre Wohnung vorzugsweise zum Schlafen und zum Frühstücken. Trotzdem ist ihr Zuhause dekoriert wie ein Hochzeitskuchen. Glänzende Stoffe sind zu sehen und großflächige Bilder, nutzlose Figuren, Pflanzen und dicke Teppiche. Der Gipfel des Luxus: In einem großen Wohnraum befinden sich zum Gebrauch lediglich ein extravagantes Sofa, eine Stereoanlage und ein "stummer Diener". Der Raum erfüllt keinen anderen Zweck, als ästhetisch anzusprechen und auf den Geschmack der Bewohner zu verweisen, die sich um modische Originalität bemühen. Wir erkennen die Insignien ihres Körperkultes: Ein Windsurfbrett und eine Hantel werden im Wohnzimmer zur Schau gestellt. Die Sportarten, zu denen diese Sportgeräte gehören, sind in Deutschland zur Zeit sehr beliebt. Die Wanddekorationen bestehen aus Ausstellungs-, Theater- und Balettplakaten, die auf die kulturellen Aktivitäten der Bewohner verweisen. Ein Besucher erkennt gleich, daß die Bewohner am etablierten kulturellen Leben teilnehmen. Und er entdeckt Zeugnisse einer luxuriösen Warenwelt, die einzig um ihrer selbst willen existieren. Ein großer Halbmond unter einer künstlichen Palme empfängt uns neben einer Giraffe aus Pappmaché im Wohnzimmer. Die Pappmachéfiguren aus China kann man für 150,- bis 300,- DM in noblen Geschenkboutiquen erstehen. Sie sollen vom Witz und Charme der Bewohner zeugen. Und von ihrer Kaufkraft, denn nicht viele leisten sich solche Extravaganzen. Die Bewunderung für traditionellen Luxus und das Bemühen um einen individuellen, originellen Lebensstil drücken sich in vielen Details aus: das restaurierte BMW-Cabriolet, die Wohnung mit zwei Bädern und großzügiger Einbauküche, die edle französische Kaffeekanne etc. Eine Pointe setzt der "stumme Diener" im Wohnzimmer. Eine Schaufensterpuppe wurde zum englischen Butler ausstaffiert. Die heimliche Sehnsucht nach einer (unzeitgemäßen) feudalen Existenz wird als Originalität verkleidet.

Uschis Wohnung

Uschi Rydzewski lebt in stilvoller, mittelständischer Eleganz. Auch sie widmet sich sehr detailverliebt der Gestaltung ihrer Wohnung, die sie sich einiges kosten läßt. Während Ulli und Tina eine moderne, junge Version dieses Wohntyps darstellen, repräsentiert Uschi die konventionelle Variante, die Stilmöbel und Antiquitäten bevorzugt. Auch sie legt Wert auf Teppiche, Pflanzen, ausgesuchte Wand- und Tischdekorationen. Auch sie bemüht sich um eine gewisse Originalität. Im Spiegel ihres Schrankes entdecken wir ein ausrangiertes Karusselpferd. Wie bei Ulli und Tina fungiert Uschis Wohnung als Statussymbol und - wie in der Werbung zu erfahren ist - als "Ausdruck ihrer Individualität".

Die Wohnung der Tomaseks

Die Wohnung der Tomaseks ist vor allen Dingen sehr eng. Essen, kochen, schlafen, spielen: alles findet in einem Raum statt. Das Mobiliar ist zusammengesucht. Nahezu die gesamte Einrichtung ist auf dem Sperrmüll zu finden oder lagert in deutschen Kellern und Garagen, weil die Besitzer sich mittlerweile modernere, bessere Möbel leisten konnten. Tatsächlich hat die Einrichtung keinen Pfennig gekostet. Alles wurde uns geschenkt. Bis auf das Bett, das in seiner Doppelfunktion als Schlafstatt und Schrank notwendig war, um die Kleidung für fünf Personen im kalten Deutschland unterbringen zu können.

Trotzdem wird auch hier die Anstrengung sichtbar, die Wohnung schön zu gestalten. An der Wand hängen Zinnreliefs und eine Pendeluhr, vor dem Fenster Gardinen. Alle Ausstattungsgegenstände sind in Deutschland (West) längst aus der Mode gekommen. Der Fernsehapparat gehört übrigens neben dem Kühlschrank zur technischen Grundversorgung von 94% der Haushalte in der alten Bundesrepublik. Ein Telefon besaßen 1990 sogar 98% der (west-) deutschen Bevölkerung.

Die Schauspieler

Mit einem knappen Budget kann man keine großartigen Schauspieler bezahlen. Ein Film mit schlechten Schauspielern ist meist ein schlechter Film.

Die Lösung des Dilemmas: Wir verzichteten auf Profis. Stattdessen bat ich typische Menschen mit telegener Ausstrahlung mitzumachen. Erst dann wurde das Drehbuch geschrieben, den Personen sozusagen auf den Leib. Die Charaktere mußten also nicht gespielt werden. Die Darsteller hatten sich lediglich in gestellte Situationen zu begeben, wobei viele Details aus ihrer realen Biographie in die Filmbiographie übernommen wurden. Deshalb behielten wir in der Regel auch die originalen Namen bei. Lediglich Susanne und Robert Tomasek wurden "gespielt". Die echte "Frau Tomasek" (Name geändert) habe ich jahrelang mit ihren Kindern beobachtet. Sie wohnte im Nachbarhaus, kam aus Polen und sprach kaum deutsch. Ich habe sie in den drei Jahren unserer Nachbarschaft niemals lächeln sehen. Sie war zu schüchtern, Einladungen anzunehmen und zog sich völlig zurück. Im Film habe ich aus Anna, wie sie in Wirklichkeit hieß, eine Deutsche gemacht, denn schließlich sollte ja Deutsch gesprochen werden. Außerdem habe ich die Depressivität der Figur weniger extrem dargestellt, als sie es wirklich war.

Die Geschichten sind nicht erfunden, sondern gefunden. Es sind Begebenheiten, die ich in meiner Umgebung beobachtet oder selbst erfahren habe.

Die Namen

Als Geländer, auf das man sich inmitten der verwirrenden Personenvielfalt der Hausgemeinschaft stützen kann, dienen die Namen.

Alle namentlich erwähnten Personen besitzen eine wichtige Funktion. Je bewußter sie von Anfang an erfaßt werden, desto einfacher sind die filmischen Zeichen zu deuten. Das Erkennen von Namen erfordert die Fähigkeit, genau hinzuhören und die fremde Phonetik zu imitieren. Diese Fähigkeit wird geschult, indem der Lehrer immer wieder die Aufgabe stellt, Namen zu erhorchen. Die Lerner lassen sich schneller auf die Protagonisten ein, wenn von "Ulli" und "Tina" die Rede ist, als von "dem Blonden" oder "der da", zumal das Vokabular der Personenbeschreibung den Anfängern noch fremd ist.

Die Sprache

Von vornherein wurden nur solche Schauspieler für Sprechrollen ausgesucht, die keine besonderen Ausspracheprobleme haben, also dem Muttersprachler gut verständlich sind. Die normalen Sprechgewohnheiten sollten beibehalten werden. Die Schauspieler sprechen daher in ihrem natürlichen Tempo. Sie benutzen keine künstliche Bühnensprache, sondern ein mit leichtem Lokalkolorit gefärbtes Hochdeutsch.

Um eine authentische Wirkung der Dialoge zu erzielen, korrigierten wir in vielen Fällen die Drehbuchvorlage, wenn ein Schauspieler seine eigene Dialogvariante vorzog. Frau Hinz erschien es beispielsweise ganz unnatürlich, Ulli mit "Herr Ogiewa" anzusprechen (Folge 1). Den würde sie in Wirklichkeit niemals mit "Sie" anreden! Kurzerhand änderten wir das Drehbuch und ersetzten "Herr Ogiewa" durch "Ulli". Sofort war die Künstlichkeit der Szene verschwunden, Frau Hinz fühlte sich wieder wohl in ihrer Haut.

Auf dem Arbeitsamt (Folge 1) bittet ein markant frisierter Typ Robert Tomasek um Feuer. Peter Krenz, der Darsteller des Arbeitssuchenden, sollte eigentlich fragen: "Entschuldigung, haben Sie vielleicht Feuer?". Diese umständliche Formulierung wäre allerdings nicht stimmig gewesen, da sie der schichtspezifischen Ausdrucksform des Darstellers, der identisch mit seiner Rolle ist, nicht entspricht.

Auf meine Frage, wie er sich in einer entsprechenden Situation verhielte, steckte Peter sich eine Zigarette zwischen die Lippen und ließ mit schrägem Blick zur Seite lediglich ein lakonisches: "Feuer?" hören. Entsprechend wurde die Szene daraufhin gefilmt.

Wir versuchten, das Gebot der Authentizität mit dem didaktischen Anliegen in Einklang zu bringen. Auch auf einen Muttersprachler wirkt der Film glaubwürdig.

Die Figuren

Die Rollen wurden so ausgewählt, daß sie eine möglichst variantenreiche Mischung hinsichtlich Alter, Geschlecht und sozialer Lebensumstände bieten.

Bei der Beschreibung der einzelnen Charaktere ist eine Mixtur aus der Biographie der Schauspieler und der Geschichte der Filmfiguren beabsichtigt. Bis auf den Fall der Familie Tomasek stimmt der Lebensweg der fiktiven Personen mit dem der realen Menschen weitgehend überein. Die Unterschiede zwischen Film und Wirklichkeit sind in den Kurzbiographien gekennzeichnet. Die aktuell erzählten Filmgeschichten sind jedoch alle fingiert. Sie stellen mögliche Varianten, Planspiele der tatsächlichen Lebensgeschichten dar.

Es gibt die Hausgemeinschaft "Hauptstraße 117" in Wirklichkeit nicht. Die Schauspieler kannten sich untereinander vor Drehbeginn nicht einmal.

Ulli Ogiewa

Der Verwöhnte

Geboren: 7.6.1965 in Düsseldorf

Aufgewachsen in: Langenberg

Wohnt in: Langenberg

Familienstand: ledig (Freundin), keine Kinder

Ausbildung: Industriekaufmann, studiert Betriebswirtschaftslehre

Im Film: Bankkaufmann

Hobby: Surfen, Rennradfahren, Bodybuilding

Zu erfahren, wie es ist, wenn man für sich allein verantwortlich ist, gilt deutschen Psychologen und Pädagogen als ein wichtiger Schritt zur Entwicklung einer selbständigen, urteilsfähigen Persönlichkeit.

Im Film hat Ulli den Absprung in eine eigene Haushaltsführung geschafft. In Wirklichkeit findet er das Leben im Elternhaus wie die Mehrzahl seiner unverheirateten Altersgenossen bequemer. Die Mutter kocht und wäscht, er braucht keine teure Miete zu zahlen und läßt sich umsorgen. Ulli vertritt einen neuen Typus im Personenspektrum der alten Bundesrepublik. Er ist als Einzelkind einer mittelständischen Familie mit den Segnungen nahezu uneingeschränkten Konsums aufgewachsen und gehört zur sogenannten Erbengeneration. Die Kleinfamilie mit ein bis zwei Kindern stellt mit ca. 70% bei allen Differenzen innerhalb dieser Gruppe den Löwenanteil der deutschen Familien. Die ökonomischen Bedürfnisse der heute unter Dreißigjährigen wurden quasi von Geburt an befriedigt. Die Mütter widmen sich sehr intensiv dem Wohlergehen ihres Kindes, dem alle nur erdenkliche Förderung zuteil wird. Die Entfernung der Kinder aus der Realität mit ihren existenziellen Bedrohungen, mit Angst, Unsicherheit, Gewalt, Arbeit, sozialer Verantwortung, sozialer Abhängigkeit, Krankheit, Krieg, Tod und Unrecht führt in der Regel zu einer Verspätung des psychischen Reifungsprozesses. Die Kindheit einer in Wohlstand heranwachsenden Generation verlängert sich. Gleichzeitig entwickeln junge Erwachsene in dem Lebenskontext der Verantwortungslosigkeit häufig parasitäre und egozentrische Züge. Vom Familienleben geht es häufig, wie bei Ulli, direkt in die Zweierbeziehung. Diesen traditionellen Lebenslauf hatte die Studentenrebellion 1968 durchbrochen. Zu den Errungenschaften des Aufstandes gehörten die eigenen vier Wände, in denen junge Erwachsene nach Geschmack leben und neue Formen der Wohngemeinschaften ausprobieren konnten. Dazu gehörten allerdings auch die selbständige Finanzierung und Versorgung, die Erfahrung von Einsamkeit oder Gruppenzwängen in Wohngemeinschaften. Seit Mitte der 80er Jahre ist der Wunsch nach Selbständigkeit rückläufig. Von den freiheitlichen Ideen der 68er-Rebellion ist kaum mehr geblieben als die sexuelle Befreiung. Die erlaubt es heutigen Jugendlichen in der Regel, ihre Triebe schon im Elternhaus auszuleben. Bei gleichzeitigem Anstieg des mittelständischen Wohlstands, der dem einzelnen genügend Privatraum zur Verfügung stellt, gibt es daher nur noch wenig Gründe zum frühzeitigen Auszug aus der elterlichen Wohnung.

Der Komfort des ersten eigenen Haushalts ähnelt - wie bei Ulli und Tina - oft dem der Eltern. Das junge Paar hat es bereits zu ökonomischer Absicherung gebracht. Die Ausbildung ist abgeschlossen, man besitzt Lebensversicherung, Bausparvertrag und Einbauküche. Beruflich werden dafür Anpassungen gern in Kauf genommen. Der Blick auf die Welt beschränkt sich auf die eigene Lebensgestaltung, auf Freunde, Freizeit, Karriere, Familie. Nicht das Experiment steht im Vordergrund, sondern die Wahrung des Status quo. An anderen Lebenswirklichkeiten besteht wenig Interesse. Sie werden schlicht ignoriert.

Die Beziehung Ullis zu seinen sozial benachteiligten Mitbewohnern, den Tomaseks, dokumentiert diese Tendenz. Sein Lebensstil dagegen gleicht einer Kopie der Werbewelt. Er orientiert sich vornehmlich am Erfolg.

Tina Heidermann

Die Naive

Geboren: 1.3.1971 in Wuppertal

Wohnt in: Wuppertal

Familienstand: ledig (Freund), keine Kinder

Ausbildung: studiert Grundschulpädagogik

im Film: Bürokauffrau (Sekretärin)

Hobby: spielt Klarinette

Auch Tina wohnt in Wirklichkeit noch mit ihren beiden Schwestern im Elternhaus. Ihr Familiensinn ist so ausgeprägt wie ihr soziales Interesse. Sie studiert Pädagogik und möchte Grundschullehrerin werden.

Ihre ausgeprägte, bejahende Anbindung an die Familie, vor allem an die Mutter, wurde mittels einiger Details in die Filmhandlung integriert. Wir erfahren, daß die Einbauküche früher der Mama gehörte (Folge 3). Wir können eine enge Beziehung zur Mutter vermuten und erhalten einen Hinweis auf das soziale Milieu des deutschen Mittelstandes und die leichten Lebensbedingungen der Erbengeneration. Das Telefonat mit der Mutter in der siebten Folge bestätigt die Annahme. Die Mutter ruft ohne besonderen Grund an und fragt lediglich, was die Tochter gerade mache. Was auf dem Tisch steht und wer gekocht hat, befriedigt das fürsorgliche Interesse der Mutter am Leben der Tochter. Die Selbstverständlichkeit, mit der Tina das Telefonat entgegennimmt, deutet auf seinen alltäglichen Charakter hin. Mutter und Tochter stehen zumindest telefonisch in täglicher Verbindung. Im Film arbeitet Tina als Bürokauffrau in einer großen Kunstgalerie. "Bürokauffrau" ist das beliebteste Berufsziel junger Frauen in Deutschland (West). Tinas Interessen beschränken sich auf ihren privaten Bereich. Die Sorgfalt, mit der sie diesen ausgestaltet, wird nicht allein durch die Ausstattung ihrer Wohnung deutlich, sondern auch an ihrer Kleidung und Ernährung. In der fünften Folge erfahren wir, daß sie morgens frisches Obst einkauft, damit sie während der Arbeit genug Vitamine zu sich nimmt. Mit ihrem Korb erinnert sie an die naive Märchenfigur "Rotkäppchen". Alles an ihr ist gesund, weich, ahnungslos, unerfahren und kindlich. Sie wähnt ihre Welt noch in Ordnung. Aber die Phänomene der Angst, des Alterns, Vergehens und der Gewalt erscheinen auch in ihrem Leben. Sie versteht die Zeichen nur noch nicht recht. Die hämische Bemerkung Ullis (Folge 4), er finde Brigitte Kuglin alt, erschreckt Tina. Ob er das in 15 Jahren auch über sie sagen wird? Aber solchen Gedanken geht sie lieber noch nicht weiter nach. Doch Naivität, Nicht-wissen-wollen ist gefährlich. Tina scheint auf dem Weg zur Arbeit beobachtet zu werden (Folge 5). Sie tritt in die Galerie ein, und wir sehen die symbolische Szenerie eines Schattenspiels junger, tanzender Mädchenfiguren. Auf dem bewegten Vorhang wölbt sich der Bauch der Zentralfigur zum Fruchtbarkeitssymbol, als wäre sie schwanger. Wie ein Spuk lösen sich die geradezu mystisch anmutenden Schatten unter dem Dröhnen der elektronischen Rollos in den eindringenden Strahlen der Morgensonne auf.

Die Integration Tinas in das harmonische Kunst-Arrangement wird durch einen harten Schnitt abgebrochen. Ein Fahrstuhl kommt aus dem Untergeschoß hoch. Das Thema des Alterns wird bildlich wiederaufgenommen. Aus dem Dunkeln taucht neben Tinas Spiegelbild allmählich das Gesicht einer reifen Frau auf, die Chefin. Für eine Frau in einer Gesellschaft, die einen (Werbe-)Kult um jugendliche Schönheit zelebriert, wird das Altern zur Bedrohung.

Doch die Gefahr, die sich Tina ankündigt, bleibt keine abstrakte. Sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause erhält sie eigentümliche Anrufe. Sie kann sich nicht erklären, wer der Anrufer sein könnte.

Das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtet 1993: "Der Telefonterror gegen Frauen, so belegen Erhebungen des Bundeskriminalamtes, nimmt immer mehr zu."

Elsbeth Hinz

Die Großherzige

Geboren: 14.4.1922 in Wolfau, Niederschlesien (heute Polen)

Aufgewachsen in: Wolfau

Wohnt in: Langenberg

Familienstand: verwitwet

Heirat: 1941 in Wolfau

1. Kind: 1941

Flucht: 1945

2. Kind: 1946

Scheidung: 1947

2. Heirat: 1954

verwitwet: 1961

3. Heirat: 1967

verwitwet: 1993

2 Enkel

Ausbildung: keine, ungelernte Arbeiten

Status: Rentnerin

Hobby: Leben

Elsbeth Hinz lebt in einem Altenwohnhaus in Langenberg. Ihr dritter Ehemann August, der im Film noch den eleganten Heiratskandidaten spielte, ist mittlerweile gestorben. Altenwohnhäuser sind Mietshäuser, in denen es ausschließlich Wohnungen für Senioren gibt. Wer eine der raren Wohnungen bekommen kann, gilt als bevorzugt. Denn meistens erleichtert und bereichert der enge Kontakt mit Gleichgesinnten das Leben älterer Menschen in der deutschen Gesellschaft, in der für Großfamilien kaum noch Platz vorhanden ist.

Ca. 12 Milionen oder 15% aller Deutschen sind über 65 Jahre alt, das heißt, sie sind im gesetzlichen Rentenalter. Eine Vergleichszahl: 1910 waren lediglich 5% über 65.

Das Leben der Älteren spielt daher eine große Bedeutung in der deutschen Sozialpolitik. Denn mit den Stimmen der Rentner können durchaus Wahlen entschieden werden.

Im Film lebt Elsbeth seit Jahren wie viele Rentner in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Ihre Kinder wohnen in Norddeutschland. Sie kann auf familiäre Unterstützung nicht bauen und muß mit ihrem Leben allein zurechtkommen. Sie gibt Heiratsannoncen auf. Nicht etwa, um einen vierten Ehemann zu finden, sondern sie genießt das Abenteuer, neue erotische Kontakte zu knüpfen und zu lösen, wie es ihr gefällt. Dieses extravagante Hobby ist in ihrer Altersklasse nicht gerade gesellschaftsfähig. Deshalb behält sie es aus Angst um ihren guten Ruf für sich. In einem Buch archiviert sie ihre Begegnungen. Schließlich möchte sie kein Abenteuer vergessen. Und auf ihre Merkfähigkeit will sie sich in ihrem Alter nicht mehr verlassen. Ihre Aufzeichnungen sind streng geheim. Wichtig ist ihr absolute Diskretion. Daher wechselt sie immer die Orte ihrer Treffen. Die Aura des Geheimnisvollen, den Reiz des Verbotenen kostet sie voll aus. Ihr Geheimnis erhöht ihre Attraktivität. Elsbeth hat den zweiten Weltkrieg erlebt, die Flucht aus dem ehemaligen Osten Deutschlands. Sie hat Kinder in der Kriegs- und Nachkriegszeit bekommen, hat sie allein großgezogen und schwer gearbeitet. Mit den Männern hatte sie Pech. Trennung und Tod hat sie dreimal erlebt. Aber dafür, sagt sie, war auch die ganz große Liebe dabei. Sie hat gelernt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und auch unter widrigen wirtschaftlichen und privaten Umständen das Beste daraus zu machen. Sie liebt alles Üppige, Bunte, Vitale. Ihre Lebenserfahrung hat sie mit viel Einfühlungsvermögen in fremdes Leid ausgestattet. Sie ist diejenige im Haus, die die Situation der Tomaseks an wenigen Zeichen erkennt. Sie weiß: Jemandem, der immer wortkarger wird, der sich immer mehr zurückzieht, weil er am liebsten gar nicht mehr da sein möchte, so jemandem wie den Tomaseks haben die Umstände übel mitgespielt. Da muß man helfen. Sie tut, was in ihrer Macht steht. Sie vermittelt Robert Tomasek eine Arbeit (leider nicht die richtige) und versucht, zumindest durch ihre Freundlichkeit und ihr Entgegenkommen zu zeigen, daß sie um die schwierige Lebenslage der Tomaseks weiß. Sie erinnert sich an die eigene Vergangenheit, die Armut, die Verantwortung für die Kinder, das Mißtrauen der Mitmenschen, die ihr als alleinstehender Mutter, als Außenseiterin der Gesellschaft eher mit Skepsis als mit Anteilnahme begegneten. Am schlimmsten ist, das weiß sie, wenn andere so tun, als wäre man gar nicht da. Und wenn man nicht mehr den Mut hat, sich darüber zu beschweren. Deshalb versucht sie, Susanne Tomasek zu ermutigen.

Robert Tomasek

Der Zerstörte

(in der Wirklichkeit: Robert Nemecek)

Geboren: 25.1.1960 in Prag/Tschechoslowakei

Aufgewachsen in: Langenfeld seit 1968

Wohnt in: Köln

Familienstand: ledig (Freundin), keine Kinder

Ausbildung: Studium der Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Philosophie

Beruf: Fachjournalist, Pianist

(im Film: Robert Tomasek)

Geboren: 11.1.1957 in Prag/Tschechoslowakei

Aufgewachsen in: Prag

Wohnt in: Langenberg seit 1990

Familienstand: verheiratet, drei Kinder

Ausbildung: keine

Beruf: arbeitslos

Robert hat eine doppelte Biographie, denn die Übereinstimmungen zwischen Fiktion und Realität beschränken sich in diesem Fall auf den Geburtsort.

Es ist kaum möglich, eine Person vor der Kamera auf Kommando agieren zu lassen, die sich tatsächlich in der miserablen Situation befindet, die sie darstellen soll. Jemand, der die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hat, stellt sich normalerweise nicht noch öffentlich aus. Deshalb mußte ein Schauspieler für die Rolle gefunden werden.

Robert Tomasek ist einer der vielen Verlierer der neunziger Jahre. Nach dem Zusammenbruch des `Ostblocks' gibt es für ihn im Kapitalismus kaum Existenzchancen. Im sozialistischen Prag konnte er seine Familie mit illegalen Schwarzmarktgeschäften gut versorgen. Im Westen wäre er ein guter Manager gewesen, ein Organisationstalent. 1990 emigrierte er wie viele Menschen aus dem `Ostblock' mit seiner deutschen Frau und seinen drei Kindern nach Deutschland. Sie hofften auf das große Glück im goldenen Westen, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Diese Hoffnung erwies sich schnell als Trugschluß. Die Familie landete in einem sogenannten Übergangswohnheim für Ostaussiedler. Zwei Jahre lang lebten die fünf Personen in einem 20 Quadratmeter großen Zimmer. Im kühlen deutschen Klima ist man auf genügend Wohnraum sehr angewiesen, denn das Leben findet hauptsächlich in Innenräumen statt. Die Enge belastete alle Familienmitglieder sehr. Einer ging dem anderen auf die Nerven. Dazu fühlten sie sich in ein Ghetto verbannt. Kontakte zu einheimischen Deutschen konnten nicht entstehen. Die Wohnheime der Übersiedler gelten als schlechte Adresse, die Einheimische lieber meiden. Zwei Jahre lang suchten die Tomaseks nach einer bezahlbaren Wohnung angemessener Größe. Als Familie mit drei Kindern haben sie jedoch kaum eine Chance, eine günstige Wohnung zu bekommen. Kinder sind bei Vermietern oft unerwünscht. Der Wohnungsmangel nimmt immer mehr zu, so daß die Tomaseks 1992 eine Wohnung beziehen, die mit 40 Quadratmetern für eine Familie viel zu klein, dafür aber sehr teuer ist.

Durchschnittlich stehen einer westdeutschen Familie mit drei Kindern 21 Quadratmeter Wohnraum pro Kopf, also 105 qm, zur Verfügung. Ein noch längerer Aufenthalt im Übergangsheim schien den Tomasek allerdings unerträglich. Die Ehe war bereits zerrüttet. Die Unterhaltung bestand nur noch aus gegenseitigen Vorwürfen.

Die Familie lebt von Sozialhilfe, die ihre Existenz sichert. Robert, der in Prag sehr beliebt war und erfolgreich seine Geschäfte abwickelte, hat auf dem deutschen Arbeitsmarkt nur geringe Chancen. Geschäftskontakte hat er hier nicht, für die Selbständigkeit fehlt ihm Startkapital und eine Ausbildung kann er nicht vorweisen. Unzählige Male war er auf Arbeitsämtern, um einen Job zu finden. Immer wieder wird ihm mitgeteilt, daß es für ihn nichts gibt. Mit welchen Worten und Gesten die Angestellten der Arbeitsämter ihm das klarmachen, weiß er mittlerweile. Deshalb wartet er das Ende des Gesprächs auf dem Arbeitsamt in der ersten Folge auch nicht mehr ab. Die einzigen Hilfsarbeiten, mit denen er seine Familie ernähren könnte, sind schwere körperliche Arbeiten. Doch Robert ist kein Praktiker und besitzt keine kräftige körperliche Konstitution. Den Anforderungen körperlicher Schwerstarbeit ist er nicht gewachsen. Er betrachtet seine Situation realistischerweise als ausweglos. Seine Energien sind längst verbraucht. Zu groß waren die Hoffnungen, zu groß die Enttäuschungen. Inmitten einer Wohlstandsgesellschaft gehört er, der als Kapitalist im Sozialismus immer prächtig durchgekommen ist, nun zum unerwünschten Abschaum der Gesellschaft. Zum Arbeitslosenheer, das keine Aussicht auf Veränderung hat. Dazu leidet er unter den ständigen Vorhaltungen seiner Frau, den beengten Wohnverhältnissen und der sozialen Isolation. Wären doch die Kinder nie geboren! Nicht mehr da sein! Eine andere Lösung kann er sich nicht vorstellen. Er flüchtet sich in den Alkohol und die Zerstreuung des Fernsehens. Als Frau Hinz ihm die Stelle bei der Gerüstbaufirma vermittelt, greift er zu, obwohl er weiß, daß er körperliche Schwerstarbeit nicht leisten kann und Höhenangst hat. 25 Kilogramm muß er stemmen im Akkord (das heißt, er wird nach Leistung bezahlt). Die feindselige Haltung seines Kollegen Toni entmutigt ihn zusätzlich. Als Mensch mit Qualitäten nimmt ihn niemand mehr wahr.

Der Absturz vom Gerüst wiederholt lediglich physisch, was seiner Psyche schon geschehen ist.

Susanne Tomasek geb. Krenn

Die Enttäuschte

(in der Wirklichkeit: Susanne Hecht)

Geboren: 15.5.1962 in Langenberg

Aufgewachsen in: Langenberg

Wohnt in: Langenberg

Familienstand: ledig, ein Kind

Ausbildung: Studium der Filmwissenschaft, Germanistik und Italianistik

Beruf: Hausfrau, Mutter, Dozentin, Filmemacherin

Hobby: Singen

(im Film: Susanne Tomasek)

Geboren: 1.10.1960 in Recklinghausen

Aufgewachsen in: Oer-Erckenschwick bei Recklinghausen

Lebte von 1979­1990 in Prag

Wohnt in: Langenberg seit 1990

Familienstand: verheiratet, drei Kinder

Ausbildung: Konditorin, abgebrochen

Status: Hausfrau

Auch der Lebensweg der realen Susanne deckt sich nicht mit dem der Filmfigur, allerdings haben die wirkliche und die fiktive Susanne eines gemeinsam: Beide wissen, wie schwer Einkaufstaschen sind, zumal wenn man sie zusammen mit einem Kleinkind in den dritten Stock tragen muß. Die Film-Susanne hatte die miefige Welt der kleinen Stadt im Ruhrgebiet satt. 1979 machte sie Urlaub in Prag, verliebte sich in den unkonventionellen Robert Tomasek und blieb da. Ihre Eltern verziehen ihr das nie. Als sie 1986 bei einem Autounfall ums Leben kamen, ging die schwangere Susanne nicht einmal auf die Beerdigung. Die ersten Jahre in Prag waren sehr glücklich. Mit den Kindern jedoch wurde das Geld knapper, der Kontrast zwischen dem eigenen Leben und dem Lebensstandard der West-Touristen immer größer. Als Roberts Geschäfte nach dem Zusammenbruch des `Ostblocks' nicht mehr funktionieren, entschlossen sich die Tomaseks, nach Deutschland, in Susannes Heimat, zu gehen. Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit hatten sie allerdings nicht erwartet.

Susanne bereut, daß sie sämtliche Kontakte nach Deutschland abgebrochen hat. Auf Robert kann sie nicht mehr bauen. Der hat längst alle Hoffnung aufgegeben, fühlt sich nur noch überflüssig und als Versager. Durch die Kinder ist sie ans Haus gebunden, kann selbst keine Initiative ergreifen. Und Robert ist schon so depressiv, daß sie ihm die Verantwortung für die Erziehung unmöglich überlassen kann. Bis sie Kindergartenplätze für alle Kinder bekommt, muß sie sicher noch zwei Jahre lang warten. Zurück nach Prag? Manchmal hält sie das für das Beste. Aber sie weiß, daß die wirtschaftliche Situation dort katastrophal ist. Den Prager Freunden geht es miserabel. Aber immerhin sind Freunde da. Hier in Deutschland fühlt sie sich so unendlich allein. Die einzigen Gesprächspartner sind die Kinder. Und die machen ihr Sorgen. Jenny ist viel zu schüchtern und ängstlich. Manuel viel zu frech. Und Kai Lino nörgelt den ganzen Tag herum und ißt schlecht. Sie selbst wird immer depressiver. Manchmal besteht sie nur noch aus Mutlosigkeit. Soll sie sich von Robert trennen? Wenn sie eine Wohnung fände für sich und die Kinder, würde sie es vielleicht wagen. Allerdings fühlt sie sich auch verantwortlich für ihn. In Prag hatte er für die Existenz der Familie gesorgt. Deutschland ist dagegen ihre Heimat. Nach Roberts Unfall wird ihr klar, daß es nun allein auf sie ankommt.

Manuel, Jenny und Kai Lino Tomasek

Die Kinder

Manuel (Kleinholz)

Geboren: 14.8.85 in Velbert

wohnt in: Langenberg

Jenny (Kleinholz)

Geboren: 19.5.87 in Velbert

Wohnt in: Langenberg

Kai Lino (Hecht)

Geboren: 9.11.89 in Essen

Wohnt in: Langenberg, Hauptstraße 117

Die Situation der Eltern wird an den Kindern nicht spurlos vorübergehen. Die Mutter ist überfordert, niedergeschlagen und fast immer ernst. Den Vater erleben die Kinder meist nicht ansprechbar vor dem Fernseher. Zum Glück sind sie zu dritt und unterhalten sich gegenseitig. Weil sie noch nicht zur Schule gehen und keine Kindergartenplätze bekommen haben, erleben sie den Kontrast zwischen ihren Lebensbedingungen

und denen der meisten anderen noch nicht. Denn Freundschaften entwickeln sich in deutschen Kindergärten und Schulen häufig auf der Basis gemeinsamer Konsumgüter. Die Attraktivität eines Kindes wird durch seine Markenkleidung gesteigert. Da können die Tomaseks nicht mithalten.

Uschi Rydzewski

Die Disziplinierte

Geboren: 7.9.1938 in Essen

Aufgewachsen in: Essen

Wohnt in: Essen

Familienstand: geschieden

Heirat: 1959

1. Kind: 1959

2. Kind: 1966

Lebte von 1967 bis 1979 in Saudi Arabien, Algerien, Portugal und Indonesien

Scheidung: 1980

4 Enkel

Lebensgefährte

Ausbildung: Einzelhandelskauffrau
(Verkäuferin)

Status: Hausfrau

Im Film: Halbtagstätigkeit als Sekretärin bei der Firma Motzkau Gerüstbau

Hobby: Tanzen. Lesen. Sprachen

Bei Uschi ist alles tiptop. Wohnung, äußere Erscheinung, Gesundheit und Seelenleben: alles wird gepflegt. Die vierfache Oma hält ihr Leben in Ordnung. Wie Elsbeth hat sie sehr früh geheiratet, weil sie schwanger war. Nach vielen unruhigen Jahren im Ausland mit ihrem Ex-Gatten bestimmt sie ihr Leben endlich selbst. Mit ihrer Halbtagstätigkeit als Sekretärin bei der Gerüstbaufirma Motzkau verdient sie genug für ihren Lebensunterhalt. Zusätzlich kann sie auf finanzielle Rücklagen aus ihrer Ehe zurückgreifen. Sie hat endlich Zeit für sich, ihre Wohnung und ihre Bekannten. Während ihrer Ehe war sie immer nur für die anderen da: für den Mann, die Kinder, die Eltern. Zugegeben: manchmal gibt es Tage, an denen sie sich ganz leer und sinnlos fühlt. Ewig derselbe Trott. Wie das Karussellpferdchen in ihrem Wohnzimmer kommt sie sich hin und wieder immer noch vor. Es hatte ihr gleich gefallen, als sie es zufällig vor einem Trödelladen sah. So vielversprechend geschmückt, war es doch immer gefesselt ans Gestänge des Karussels. Es war viel herumgekommen, hatte viel gesehen, aber niemals eingegriffen, niemals mitgemacht. Überall funktionierte es auf dieselbe Weise, die andere ihm bestimmten. Genauso wie Uschi immer funktioniert hatte, bis sie sich von ihrem Ehemann trennte. Sie muß auf der Hut sein, nicht abermals ein Karusselpferdchen zu werden. Denn wieder belasten sie die Kinder mit Aufgaben, für die sie nicht zur Verfügung stehen möchte. Als Babysitter springt sie häufig ein. Und täglich ruft Tochter Tanja an, um sich Kochanleitungen geben zu lassen. Nicht etwa um der Mutter selbst willen, sondern um sie zu benutzen. Wie ein Putzlappen kommt sie sich oft vor. Nach Gebrauch landet der in einer Abstellkammer, um auf die nächste Benutzung zu warten.

Uschi präsentiert mit ihrer Korrektheit und Perfektion typisch deutsche Eigenschaften. Ihre Skepsis und ihr Unmut resultieren teilweise gerade aus den Zwängen, die sie sich selbst schafft. Sie ist ein Kind der Wirtschaftswunder-Generation, die den Wiederaufbau Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg vorangetrieben hat. Nach einer entbehrungsreichen Kindheit, geprägt von Gewalt, Zerstörung und Armut, mußten die Heranwachsenden in der Aufbauphase der fünfziger Jahre fleißig mitarbeiten. Auf Leistung und Effizienz kam es an. Uschi hat gelernt, sehr diszipliniert und schnell zu arbeiten. Sie hat Schwierigkeiten, sich zu entspannen, das Leben leicht zu nehmen.

Heute leben die meisten aus Uschis Generation in Wohlstand und vergessen häufig, daß sie ihren Reichtum nicht allein der eigenen Hände Arbeit verdanken, sondern daß sie auch von der Machtposition der Industrienationen auf dem Weltmarkt profitieren. Die eigenen Kinder leben in großem Luxus, für den anderswo Menschen zu Billiglöhnen arbeiten.

Uschi weiß noch, was ein Leben bedeutet, das von Existenznot bestimmt ist. Daran denkt sie nicht gern. Daß ihre Kinder allerdings den Wohlstand, in den sie hineingeboren sind, wie eine Selbstverständlichkeit hinnehmen und weder an die Vergangenheit denken, noch die Wirklichkeit Unterprivilegierter in der eigenen Umgebung oder in anderen Teilen der Welt wahrnehmen, versteht sie nicht.

Als geschiedene Frau liefert sie ein Beispiel für die wachsende Instabilität der Ehen in Deutschland. Die meisten Ehen halten zwar auch in Deutschland ein ganzes Leben lang. Doch immer mehr Menschen machen von der Möglichkeit Gebrauch, sich vom Lebenspartner zu trennen. Um allein zu bleiben, einen anderen zu heiraten oder mit ihm zusammenzuleben. In Deutschland wird nahezu jede dritte Ehe geschieden.

Uschi hat es geschafft, nach zwanzig Jahren Hausfrauendasein wieder in die Berufswelt einzusteigen. Für die Frauen stellt das häufig ein großes Problem dar, da ihnen aufgrund ihres Alters nach der sogenannten "Erziehungs- und Hausfrauenphase" mangelnde Berufserfahrung und Flexibilität unterstellt werden. Außerdem leiden viele Frauen an Minderwertigkeitskomplexen, denn Hausarbeit und Kindererziehung genießen in Deutschland keine große öffentliche Beachtung. In den Großstädten helfen Organisationen mit Beratungen und Nachschulungskursen, Hausfrauen den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt zu ermöglichen. Uschi ist stolz auf ihre Selbständigkeit und Ungebundenheit. Das Zirkuspferd darf sich nur nicht wieder einfangen lassen.

Brigitte Kuglin

Die Ratlose

(in der Wirklichkeit: Bettina Dürr)

Geboren: 2.12.1955 in Düsseldorf

Aufgewachsen in: Düsseldorf

Wohnt in: Velbert, Bologna und Reggiolo/Norditalien seit 1979

Familienstand: ledig (Lebensgefährte), keine Kinder

Ausbildung: Studium der Geschichte, Germanistik, Publizistik

Beruf: freie Publizistin

Im Film: Reiseleiterin und Dolmetscherin

Ein großzügiges Lachen, Hektik und jede Menge Pannen: Bettina Dürr alias Brigitte Kuglin. Bettinas Name wurde verändert, um mögliche Verwechslungen zwischen Tina (Namenskürzel von "Bettina") und Bettina auszuschließen. Durch die Namensänderungen sollte zudem in Erinnerung gerufen werden, daß die erzählten Geschichten trotz vieler Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit fiktiv sind. Bettina Dürr pendelt seit vielen Jahren zwischen Velbert und der norditalienischen Poebene. Sie schlägt sich mit Übersetzungen, Dolmetschertätigkeiten und journalistischer Arbeit durchs Leben.

Im Film hat sie als Brigitte Kuglin noch nicht die Existenzform gefunden, die sie befriedigen würde. Was die Arbeit angeht, muß sie ständig Zugeständnisse machen. In Gefühlsangelegenheiten läßt sie sich allerdings nicht beirren. In der Ferne gibt es wohl einen gewissen Klaus. Doch für ein Zusammen-leben reicht ihr das nicht. Insgeheim wartet sie immer noch auf die ganz große Liebe. Ihre sentimentale Ader suggeriert die ihr zugeordnete Musik. Die argentinische Milonga und das wehmütige brasilianische Volkslied, die ihre Affinität zum Süden andeuten. Wir sehen Brigitte fast nur im Zusammenhang mit ihrer Arbeit. Permanent muß sie anderen Menschen auswendiggelernte Dinge aufsagen. Doch hinter der Berufsfassade steckt eine Menge emotionaler Sprengstoff. Brigitte ist eine, die auf Suche ist. Sie verkörpert in vielfacher Hinsicht einen neuen Typus deutscher Wirklichkeit:

· Sie lebt allein, führt ein sogenanntes "Single-Dasein". Mit einem Anteil von 35% liegt der Einpersonenhaushalt an der Spitze deutscher Haushaltsformen.

· Brigitte arbeitet freiberuflich. Die freiberufliche Tätigkeit beschränkte sich ursprünglich größtenteils auf Rechtsanwälte, Ärzte, Architekten und Künstler. Abgesehen von den Künstlern sind das Personengruppen, die überdurchschnittlich gut verdienen. Da in den vergangenen 15 Jahren der Anteil der Akademiker in Deutschland gestiegen ist und Deutschland sich erstmals mit Akademikerarbeitslosigkeit konfrontiert sieht, versuchen immer mehr Personen mit Universitätsbildung, mittels "Jobs" über die Runden zu kommen. Sie haben keinen festen Arbeitgeber, sondern bieten kurzfristige Dienste an. Es gibt freie Übersetzer, Journalisten, Publizisten, Dozenten, Regisseure, Cutter etc. Sie werden in der Regel unterdurchschnittlich bezahlt und profitieren kaum von der deutschen Sozialgesetzgebung. Ihre finanzielle Zukunft, vor allem die Versorgung im Alter, ist sehr ungewiß. Der Vorteil dieser meist erzwungenen Existenzform: Es gibt keinen Chef.

· Brigitte gehört zu der wachsenden Zahl deutscher Frauen, die aus freier Entscheidung kinderlos und unverheiratet bleiben. Vor allem Frauen mit akademischer Bildung, wie Brigitte sie hat, entschließen sich oft dazu, keine Kinder in die Welt zu setzen. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig: akademische Berufe sind oft interessanter als andere und werden besser bezahlt. Kinder und Beruf sind jedoch schwer miteinander zu vereinbaren. Viele möchten für Kinder nicht auf Luxus und Wohlstand verzichten. Kinder machen abhängig vom Mann, vom Geld, vom Staat. Mit Kindern findet man schlechter Wohnraum und Arbeitsplätze. Kinder sind laut. Das stört in Deutschland. Und Kinder machen sehr viel Arbeit, die öffentlich kaum beachtet wird. Viele stellen sich auch die Frage: Kann man in diese Welt, deren Hauptproblem die Überbevölkerung ist, noch Kinder setzen, obwohl Geburtenkontrolle bei uns durch Verhütungsmittel möglich ist? Brigitte hat für sich entschieden. Doch mit ihrer Freiheit weiß sie noch nichts Rechtes anzufangen.

Harald Neumann

Der Unsichtbare

(Harald Feyen)

Geboren: 25.10.49 in Mettmann bei Düsseldorf

Aufgewachsen in: Mettmann

Wohnt in: Mettmann

Familienstand: verheiratet, 1 Kind

Im Film: ledig

Ausbildung: Lehrer

Beruf: freier Künstler, Dozent für zeichnerische Darstellung an der Fachhochschule Düsseldorf

Im Film: Lehrer

Einmal bekommen wir ihn zu Gesicht, den alleinstehenden Lehrer aus dem Dachgeschoß. Frau Hinz übergibt ihm die abonnierte Zeitung, die jeden Morgen für ihn vor der Tür liegt (Folge 5). Daran ist zu erkennen, daß er auch im Hause wohnt. Harald ist verschlossen und lebt zurückgezogen. An Hausflur-gesprächen mag er sich nicht beteiligen. Er ist höflich und umgänglich, aber sehr distanziert.

Mehr wird nicht verraten.

Das Geld
 

Einkommen netto/Monat (in DM) Sonstige 
Einkünfte 
(in DM)
Miete (kalt) 
(in DM)
bes. Belastungen 
(in DM)
Auto
Elsbeth Rente: 2200 360


Brigitte Honorare ca.: 1900 360
Krankenversicherung: 210 Mitsubishi rot
Tina
+
Ulli
Gehalt: 2400 inkl. *
Gehalt: 3600 inkl. *

1400
BMW
Uschi Gehalt: 1600 Mieteinkünfte aus Immobilie: 1500 1400 an Tochter Tanja: 500 Fiat uno schwarz
Susanne
+
Robert
Sozialhilfe: 1696
später
Lohn: 2800
(20 DM/h)
Kindergeld:
Manuel: 70
Jenny: 130
Kai Lino: 220
550

Harald Gehalt: 4330 
(inkl. Ortszuschlag u. *

550 Alimente: 800
Krankenversicherung: 230
Toyota

(* = 13. Monatsgehalt)

Das durchschnittliche Nettoeinkommen der Haushalte in Deutschland (West) betrug 1991 54.000 DM. Das entspricht 4.500 DM monatlich, pro Kopf ca. 2.200 DM.

Unsere Modellhaushalte verdienen durchschnittlich 41.500 DM pro Jahr. Pro Kopf sind das ca. 1.900 DM. Ohne die Tomaseks verdienen die Bewohner ca. 2.900 DM pro Kopf. Das vergleichsweise geringe Jahreseinkommen kann durch die etwas unterdurchschnittliche Haushaltsgröße erklärt werden. Der Anteil der Einpersonenhaushalte im Film beträgt 60%. In Wirklichkeit liegt er bei gut einem Drittel. Durchschnittlich wohnen in Deutschland (West) 2,4 Personen in einem Haushalt.

Die Einkommenssituation der Bewohner von "Hauptstraße 117" kann als typisch angesehen werden, wenn man beachtet, daß Personen mit sehr hohem Einkommen in der Regel nicht in einem Mietshaus wohnen. Das etwas unter dem Durchschnitt liegende Pro-Kopf-Einkommen kann also nicht durch sehr hohe Einkünfte (wie beispielsweise die der Galerie-Besitzer) ausgeglichen werden.

A4 Transkript Hauptstraße 117

Folge 1

Szene 1: Ulli holt Brötchen

Morgen. Ein junger Mann kommt im Dauerlauf, springt die Freitreppe hinauf, eine Tüte mit Brötchen in der Hand. Dynamisch, gut gelaunt, Frühaufsteher. Detail Hausnummer. Schwenk auf Türschloß. Schließt die Tür auf, pfeift dabei. Grüßt die Flur putzende Elsbeth Hinz.

Ulli: Guten Morgen, Frau Hinz!

Frau Hinz: Guten Morgen, Ulli!

Springt in den 1. Stock, öffnet Wohnungstür, legt Brötchen in einen Korb, auf einem Tablett ist alles fürs Frühstück vorbereitet. Gießt Kaffee in die Kanne, pfeift und trägt das Tablett in das Schlafzimmer.

Ulli: Der Kaffee ist fertig.

Das Bett von Tina ist leer. Klospülung. Badezimmertür öffnet sich.

Ulli: Aber Tina!

Szene 2: Im Arbeitsamt 1 (im Wartezimmer)

Auf der Rolltreppe von der U­Bahn ins Freie. Weg zum Arbeitsamt. Robert tritt in die Eingangshalle, blickt um sich, geht vorwärts in die Leere der Halle. Rauchverbots-Zeichen. Im Wartesaal ein Rauchender, ein Gameboy-Spielender. Austreten einer Zigarre mit dem Schuh. Eine Angestellte geht vorbei. Anerkennendes Pfeifen. Grinsen. Ein Angestellter geht vorbei. Das Grinsen erstirbt. Robert setzt sich auf einen leeren Stuhl.

Robert: Guten Tag, Ist hier noch frei?

Arbeitssuchender: Hm. .... Feuer?

Robert: Ja.

Der Arbeitssuchende bietet Robert eine Zigarette an. Robert nimmt an.

Robert: Danke.

[...]
 
 


URL: www.gata-verlag.de/prob21.html; Stand: 21.06.2005


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