"Wir werden schwach geboren, wir bedürfen der Kraft;
wir werden hilflos geboren, wir bedürfen der Fürsorge;
wir werden unwissend geboren, wir bedürfen der Einsicht.
Alles das, was uns bei der Geburt fehlt, wird uns durch die Erziehung gegeben ...
Was aber sind die Erwachsenen, wenn nicht durch die
Erziehung verdorbene Kinder?"

(aus: "Emile oder über die Erziehung", Rousseau 1995, 10)


Leseprobe

(Inhaltsverzeichnis)
 
 
Claudia Düx:
Zur Legitimation von Erziehung.
Überprüfung der Gültigkeit und Anwendbarkeit eines diskursethischen Konzepts in der Sonderpädagogik.
Eitorf: gata 2002. 

 



Inhalt

Danksagung

Geleitwort

0 Einleitung

1 Zur Legitimationsproblematik von Erziehung
1.1 Ein Grunddilemma von Erziehung
1.2 Spezielle Legitimationsprobleme
      in der Sonderpädagogik
1.3 Erziehung und Wertpluralismus

2 Diskursethik
2.1 Grundannahmen der Diskursethik
2.2 Diskursphilosophie nach BURCKHART
2.2.1 Diskursanthropologie
2.2.2 Architektonik des Normfindungsprozesses
2.3 Diskurspädagogik nach BURCKHART
2.3.1 Legitimation von und Verpflichtung zu Erziehung
2.3.2 Legitimation von und Verpflichtung
         zu sonderpädagogischer Erziehung

3 Diskussion der Anwendbarkeit und
   Gültigkeit der Diskursethik
3.1 Mitgliedschaft in der Diskursgemeinschaft
3.2 Vernunft, Sprache und Menschvollzug
3.3 Grenzen der Anwendbarkeit und Gültigkeit
3.4 Einschränkungen der Umsetzbarkeit im Alltag

4 Verzeichnis der benutzten Literatur


Geleitwort

Bei ihrer Beschäftigung mit Legitimationsproblemen von Erziehung verweist Frau Düx auf drei zentrale Fragen, die für die Pädagogik insgesamt, das heißt auch für die Heilpädagogik, bedeutsam sind. Sie fragt nach der Legitimität pädagogischer Eingriffe überhaupt, nach Grenzen der Erziehbarkeit, die letztlich über den Zugang zu oder den Ausschluß aus Bildungsprozessen und Bildungseinrichtungen führen, und nach legitimen Formen und Methoden der Erziehung. Von besonderem Interesse ist das grundsätzliche Problem, daß jede Vorstellung von Erziehung wesentlich von den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen abhängt, auf denen sie basiert.

Bezüglich der speziellen Problematik der Heilpädagogik geht sie in bemerkenswerter Klarheit und Deutlichkeit darauf ein, daß der Zweifel am Lebenswert und -sinn von Menschen mit Behinderungen und die damit verbundene Absage an ihr Recht auf Bildung sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Erziehung zieht und bis heute aktuell geblieben ist. In der Gegenwart wird diese Problematik durch Entwicklungen der Biowissenschaften wieder akut, vor allem in der Pränataldiagnostik und der Gentechnologie. Hier nämlich taucht die Frage auf, unter welchen Bedingungen und ab wann ein Mensch einem ethischen Schutzbereich zugerechnet werden kann und muß.

Dieser Problemkomplex steht im Hintergrund der Überlegungen von Frau Düx, und er führt sie folgerichtig zu Legitimationsproblemen, mit denen sich Heilpädagogik als gesellschaftliches System und als normorientierte Wissenschaft konfrontiert sieht. In diesem Zusammenhang spielt eine der zentralen Grundfragen der Philosophie und Wissenschaft des 20. Jahrhunderts eine Rolle. Es ist die Frage nach der Möglichkeit von allgemeingültigen Grundsätzen und von Wahrheit, anhand derer Erziehung orientiert und durch die sie legitimiert werden könnte. Diese Frage stellt sich in der Gegenwart auch deshalb mit großer Dringlichkeit, weil zahlreiche Philosophen, beispielsweise Vertreter der ,Postmoderne`, die Möglichkeit allgemeingültiger Grundsätze und damit auch einer allgemeingültigen Ethik abstreiten.

Die Diskursethik stellt in diesem Kontext eine diskussionswürdige Herausforderung dar, weil sie für sich beansprucht, Antworten auf diese Fragen geben zu können. Sie erhebt den Anspruch auf universale Gültigkeit und Unhintergehbarkeit und will als Maßstab dienen, an dem man sich bei der konkreten Bewältigung von Normenkonflikten jeglicher Art orientieren soll.

Vor diesem Hintergrund fragt Frau Düx in ausgezeichneten Reflexionsdiskursen zum einen nach der Legitimation von Erziehung, zum anderen ist die Überprüfung der Anwendbarkeit und Gültigkeit des diskursethischen Konzepts in der Heilpädagogik Thema ihrer Arbeit. Sie versucht, die Grenzen der Gültigkeit und Anwendbarkeit des Konzepts aufzuzeigen. Dabei werden die Kriterien für eine Mitgliedschaft in der Diskursgemeinschaft kritisch hinterfragt. Weiterhin wird überprüft, ob die traditionell vernunftorientierte Diskursethik als moralischer Orientierungsmaßstab für Erziehung aus der Sicht der Heilpädagogik akzeptabel sein kann. Ferner wird auf der Grundlage der gegebenen Informationen das Konzept im Hinblick auf die Letztbegründetheit und Anwendbarkeit der Grundnormen überprüft, um abschließend Einschränkungen seiner Umsetzbarkeit im Alltag aufzuzeigen.

Durch die sehr weit gefaßte Fragestellung und den knappen Umfang der Arbeit bleibt die Analyse und Auswertung zwar recht allgemein und kann der Komplexität der Materie nicht in allen Details gerecht werden, bietet aber einen ausgezeichneten Einstieg auch und gerade in die Anwendungsfrage moralphilosophischer Konzepte für die Pädagogik. Der Bezug auf die Heilpädagogik ist hierbei von besonderem Interesse.

Es freut uns, daß es Frau Düx gelungen ist, diese Arbeit zu publizieren und somit dem öffentlichen Diskurs zugänglich zu machen. Dies gilt um so mehr, als die Diskursethik ­ die, wie immer man zu ihr steht, in den vergangenen Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum die wohl wichtigste und einflußreichste Ethik dargestellt hat ­ in der Heilpädagogik bisher nur von sehr wenigen Autoren und auch nur bruchstückhaft rezipiert worden ist.

Holger Burckhart und Markus Dederich, im Februar 2001


"Wir werden schwach geboren, wir bedürfen der Kraft;
wir werden hilflos geboren, wir bedürfen der Fürsorge;
wir werden unwissend geboren, wir bedürfen der Einsicht.
Alles das, was uns bei der Geburt fehlt, wird uns durch die Erziehung gegeben ...
Was aber sind die Erwachsenen, wenn nicht durch die
Erziehung verdorbene Kinder?"

(aus: "Emile oder über die Erziehung", Rousseau 1995, 10)

Einleitung

Die im obigen Zitat angedeutete Ambivalenz des Phänomens Erziehung besteht wahrscheinlich schon, seit sich Menschen überhaupt Gedanken über Erziehung machen.

Einerseits werden stets hohe (Hilfs-)Erwartungen an die Erziehung gestellt. "Kraft", "Fürsorge", "Einsicht" und "alles, was [...] bei der Geburt fehlt", soll dem Menschen durch sie zuteil werden. Andererseits wird sie auch für viele seiner Probleme verantwortlich gemacht. Beides ist nicht unbegründet und läßt sich auf verschiedene Ursachen zurückführen. Wer erzieht, verfolgt dabei bestimmte Ziele, leitet, schränkt ein. "Er-Ziehen" bedeutet somit immer auch zu einem gewissen Anteil Machtausübung. Zwar sind alle Kontakte zwischen Menschen in irgendeiner Weise von dem Phänomen der Macht geprägt. In erzieherischen Verhältnissen scheint der Machtvorteil der ErzieherInnen jedoch schon allein aufgrund des stets vorausgesetzten Wissensvorsprungs gegenüber den zu Erziehenden festgesetzt. Bei näherer Betrachtung spielen bei der Legitimation von Erziehung unter anderem Fragen nach der Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit dieses Wissensvorsprungs und des Machtvorteils eine Rolle. Es fragt sich zum Beispiel, an welchen Kriterien ersichtlich wird, wer bereits als "erzogen" und fähig gilt, bestimmte Erziehungsziele auszuwählen, seine jeweilige 'Idee' von Erziehung umzusetzen und zu verwirklichen. Wenn die Fähigkeiten eines Menschen immer als in irgendeiner Weise eingeschränkt bezeichnet werden müssen, ab wann hat dann jemand das Recht oder die Pflicht, andere Menschen zu erziehen? Ist Erziehung wirklich unerläßlich für alle Menschen und läßt sich aus einer Erziehungsbedürftigkeit auch auf ein Recht des Menschen schließen, erzogen zu werden?

Im ersten Kapitel dieser Arbeit sollen zunächst diese und andere Legitimationsprobleme der Erziehung strukturiert werden, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu stellen. Dazu wird zunächst aufgezeigt, daß jegliche Vorstellung von Erziehung wesentlich von den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen abhängt, auf denen sie basiert. Die Sonderpädagogik1 muß jedoch Erziehung in spezieller Weise 'legitimieren'. Ein Grund dafür ist, daß einem Teil des von der Sonderpädagogik angesprochenen Personenkreises immer noch das Recht auf Erziehung abgesprochen wird. Weiterhin wird auf Legitimationsprobleme eingegangen, mit denen sich speziell die Sonderpädagogik als gesellschaftliches System und als normorientierte Wissenschaft konfrontiert sieht.

Die Fülle der Legitimationsfragen läßt sich hier auf drei Grundfragen reduzieren, die miteinander verwoben sind: 1. Ist Erziehung möglich (Autonomie des Menschen vs. seine Erziehbarkeit und Erziehungsbedürftigkeit)? Diese Frage ist in der Sonder- wie in der allgemeinen Pädagogik gleichermaßen virulent. 2. Ist Erziehung für jeden Menschen möglich/notwendig? (Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen erziehungswürdigem Wesen und nicht zu erziehendem Wesen?)2 Dies betrifft in besonderem Maße die Sonderpädagogik. 3. Bejaht man beide Fragen (alle Menschen, also auch alle 'SonderschülerInnen'3, sind erziehungswürdig, sie sind erziehungsbedürftig und erziehbar), stellt sich die Frage: Wie erziehen? Spätestens an dieser Stelle steht die Sonderpädagogik vor einer der zentralen Grundfragen der Philosophie und Wissenschaft des 20. Jahrhunderts. Es ist die Frage nach der Möglichkeit allgemeingültiger Grundsätze und Wahrheiten, anhand derer Erziehung orientiert und durch die sie legitimiert werden könnte.

Daß in diesem Zusammenhang Theoriebedarf besteht, ist evident. Als eine besonders diskussionswürdige bietet sich hier die Diskursethik an, weil sie für sich beansprucht, Antworten auf diese Fragen geben zu können. Sie erhebt den Anspruch auf universale Gültigkeit und Unhintergehbarkeit und will als Maßstab dienen, an dem man sich bei der konkreten Bewältigung von Normenkonflikten jeglicher Art orientieren soll. Der Anspruch auf universelle Gültigkeit wird von vielen Seiten kritisiert. BRUMLIK spricht zum Beispiel von einer "Enttäuschung an dem [Un-?]Vermögen der Diskursethik, pädagogische Probleme auch nur angemessen formulieren, geschweige denn lösen zu können" (1992, 8). Eine Überprüfung und Auswertung der Diskursethik im Hinblick auf gegenwärtige Probleme und Ansätze der Sonderpädagogik erscheint gerade deshalb interessant.

Holger BURCKHART hat als bislang einziger mit seiner Habilitationsschrift "Diskursethik, Diskursanthropologie, Diskurspädagogik"4 eine theoretische, philosophische Reflexion der Diskursethik im Hinblick auf Pädagogik geleistet. Darum wurde sein Ansatz als Konzept für diese Arbeit ausgewählt. Speziell in Bezug auf die sonderpädagogische Erziehung wurde die Diskursethik noch kaum explizit rezipiert und ausgewertet.5 Bisherige Behandlungen beziehen sich zum größten Teil auf kritische Anfragen an die Diskursethik und Vergleiche mit utilitaristischen Positionen vor allem im Hinblick auf die Euthanasie-Problematik von ANTOR und BLEIDICK, GRÖSCHKE, HAEBERLIN und BRUMLIK6.

So wird zum einen nach der Legitimation von Erziehung gefragt, womit sich vorwiegend die ersten beiden Kapitel befassen und wobei anhand der Diskursethik eine mögliche Antwort gegeben wird. Zum anderen ist die Überprüfung der Anwendbarkeit und Gültigkeit des diskursethischen Konzeptes in der Sonderpädagogik Thema dieser Arbeit, weshalb in Kapitel 3 versucht werden soll, die Grenzen der Gültigkeit und Anwendbarkeit des Konzepts aufzuzeigen.

Es bedarf einer schrittweisen Entfaltung des Konzepts, welches ­ wie BURCKHART selbst sagt ­ ein "Ineinander von Diskurs, Diskursethik, Diskurssubjekt einerseits und Anerkennung sowie Anerkennungsverhältnisse[n] andererseits" darstellt (Burckhart 1999b, 207). Die zentralen Begriffe des Konzepts werden bei ihm nach und nach hermeneutisch (sozusagen im Diskurs) entfaltet. In den Versuch, in dieser Arbeit zentrale Aussagen dieses sehr komplexen 'Ineinanders' darzustellen, fließt zwangsläufig mein eigenes Verständnis der Diskursethik ein, welches daher als ein stets vorläufiges Verständnis verstanden werden soll.

Als theoretische Grundlegung wird in Kapitel 2.1 zunächst ein Überblick über die Prämissen, den Ansatz und die Ziele der Diskursethik gegeben und dann in 2.2 die Variante von BURCKHART vorgestellt. Dabei beschränkt sich die Darstellung gezielt auf die Erläuterung der Grundannahmen, da die Ausführung des komplexen Gebildes der Diskursethik mit all ihren Bezügen zu anderen Theorien und philosophischen Fragestellungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Der Einblick in die Diskursanthropologie BURCKHARTs (2.2.1) soll das dort zugrunde gelegte 'Menschenbild' in seiner Orientierungsfunktion für eine (normative) Pädagogik verdeutlichen. Die Fragen, inwiefern Erziehung für alle Menschen legitimierbar ist und ob alle Menschen erziehungswürdig und -berechtigt sind, lassen sich anhand der Diskurspädagogik in 2.3 beantworten.

Zum letzten Problem des Auffindens allgemeingültiger Normen und Werte schlägt BURCKHART ein dreistufiges Konzept vor (2.2.2). Es handelt sich um drei Ebenen, welche er speziell auf den Bereich der Pädagogik ausformuliert hat (2.3.1). Damit soll die oben genannte Frage beantwortet werden, inwiefern mit Hilfe der Diskursethik eine Begründung und Orientierung von Erziehungsnormen geleistet werden kann. Dieses dreistufige Konzept wird auch zugrunde liegen, wenn auf die Frage nach einer unterstützenden und orientierenden Funktion der Diskursethik für konkretes erzieherisches Handeln und Entscheiden in der Sonderpädagogik Antworten versucht werden (2.3.2).

Im Kapitel 3 werden die Kriterien für eine Mitgliedschaft in der Diskursgemeinschaft kritisch hinterfragt (3.1). Weiterhin wird überprüft, ob die Diskursethik als moralischer Orientierungsmaßstab für Erziehung aus der Sicht der Sonderpädagogik akzeptabel sein kann (3.2). Ferner wird auf der Grundlage der gegebenen Informationen das Konzept im Hinblick auf die Letztbegründetheit und Anwendbarkeit der Grundnormen überprüft (3.3). Schließlich wird versucht, Einschränkungen seiner Umsetzbarkeit im Alltag aufzuzeigen (3.4).


3.4 Einschränkungen der Umsetzbarkeit im Alltag

Im Abschnitt zur Diskurspädagogik wurde erwähnt, daß die Dialogizität ein Abgrenzungskriterium des pädagogisch Unverantwortbaren darstellt (vgl. DDD, 197). BURCKHART wendet sich zum Beispiel gegen rein "funktionsorientiertes" und für ihn deshalb "zielloses, mensch-neutrales" pädagogisches Handeln (vgl. DDD, 204). Könnten mit Hilfe der Diskursethik als Prüfstein bestimmte Theorien abgelehnt werden, wenn sich nachweisen ließe, daß zum Beispiel bei der stupiden Anwendung lerntheoretischer Grundsätze (reines Training von Kulturtechniken um der besseren Angepaßtheit willen etc.), nicht in erster Linie der Abbau der Asymmetrie und die Anerkennung der Autonomiekompetenz des betroffenen Menschen im Mittelpunkt steht?

In der Geschichte der Sonderpädagogik zeigt sich, daß gerade sonderpädagogische Erziehung von einer fortwährenden Objektivierung und Funktionalisierung der zu Erziehenden geprägt war, obwohl immer wieder auch gegen eine Reduzierung von Erziehung als ein Subjekt-Objekt-Verhältnis angegangen wurde. BACH weist in der Geschichte der Sonderpädagogik zum Beispiel "bloßes Wohlbefinden", "Euthanasie", "bloße Unauffälligkeit" oder "Brauchbarkeit" und "Vorführbarkeit" als sogenannte "Fehlziele" der Erziehung nach (Bach 1979, 21-23)78.

Nach diskursethischem Verständnis ist diese Problematik zwar beispielhaft für die reale Diskursgemeinschaft mit ihren Problemen, was den Bedarf an moralischer Orientierung des menschlichen Handelns nur unterstreicht. Es ist allerdings fraglich, ob es überhaupt Anlaß gibt, bezüglich einer "Verbesserung" des Handelns oder eines "Abbaus von Asymmetrie" durch (diskursethische) moralische Orientierung optimistisch zu sein.

Obwohl BURCKHART von einer Verpflichtung, ja sogar einer 'transzendentalen Nötigung' zur Befolgung der Diskursethik spricht (DDD, 59) muß für die Anwendbarkeit der Diskursethik auf jeden Fall das Interesse der jeweiligen 'AnwenderInnen' vorausgesetzt werden, ihr Handeln moralisch zu orientieren und eben solches bei Anderen einzuklagen. Die Frage 'warum etwas moralisch erstrebenswert ist' ist eine andere Frage als die 'warum es erstrebenswert ist, moralisch zu sein' (vgl. Hellesnes 1993, 397). Es ist ein generelles Problem, daß die Existenz von Normen noch lange nicht ihre Befolgung bedeutet (und seien sie auch noch so letztbegründet). Auch BURCKHART sieht aber das "Spannungsverhältnis von Einsicht und Befolgen" einer Norm und unterscheidet daher "Normwillen" und "Normadressatenwillen" (DDD, 62). Dennoch sind die diskursethischen Grundnormen bei jedem faktischen 'Nichtbefolger' in folgendem Sinne einklagbar: Sie werden in der Diskursethik als "Argumentationspräsuppositionen" ausgewiesen. Sie sind ­ mit Burckhart gesprochen ­ "nicht nur für diesen oder jenen Geltungsanspruch [konstituierend], sondern für das Erheben von Sinn- und Geltungsansprüchen überhaupt" und somit für jeden Menschvollzug (ebd.). Eine Verweigerung der Grundnormen würde somit konsequenter Weise einer Absage an Sinnansprüche überhaupt gleichkommen79.

Um zu verdeutlichen, warum die Anwendbarkeit dennoch von einem nicht logisch zu begründenden Optimismus abhängt, soll auf den Aspekt der sogenannten "Selbstentfremdung" des Menschen eingegangen werden. BURCKHART verweist in diesem Zusammenhang auf APEL, welcher den Grund dafür, daß die Menschen sich nie so weit entwickeln werden können, daß sie in der realen Welt reine letztgültige und intersubjektive Verständigung erreichen können, in der 'Selbstentfremdung des Menschen' sieht (vgl. DDD, 333f). Damit ist die Tatsache gemeint, daß den Menschen ihr Denken und Handeln und die sich daraus ergebenden Konsequenzen nie völlig transparent sind und die Welt laut APEL daher nicht unbedingt als Ergebnis "bewußter und verantworteter Handlungsintentionen" gesehen werden kann (vgl. Apel 1976, 142ff; zitiert in DDD, 334). Was für BURCKHART scheinbar nur einen "Störfaktor" darstellt, der die Menschen an dem endgültigen Erreichen des Ideals hindert, betrifft die Pädagogik und insbesondere die Sonderpädagogik als wissenschaftliche Disziplin als grundsätzliches Problem80.

Außer der (prinzipiellen) Fähigkeit aller Menschen zu Autonomie- und Dialogkompetenz, welche die Diskursethik den Menschen letztbegründet zuspricht, muß ­ um sie anwendbar zu machen ­ den Menschen auf lange Sicht auch die faktische Möglichkeit der Annäherung an das Ideal unterstellt werden. Beim Umgang mit existentiellen Problemen ­ wie es in manchen Bereichen der Sonderpädagogik der Fall ist ­ bedarf es eines grundsätzlichen Optimismus. Zur Erläuterung dieser Behauptung sollen zwei Beispiele dienen:

Der Sinn- und Geltungsanspruch eines Menschen umfaßt nicht nur prinzipielles Lebensrecht, sondern auch faktischen Selbstvollzug im Sinne von Selbstbestimmung. Es läßt sich nun aber als ein Spezifikum sonderpädagogischen Handelns ausweisen, daß dort stets über das einem Menschen zumutbare Maß an Selbstbestimmung geurteilt werden muß81. In der Sonderpädagogik ergibt sich das Problem verschärfter als in der allgemeinen Pädagogik, wieviel 'Selbstbestimmung' zum Beispiel einem Kind, einem behinderten Erwachsenen oder einem verhaltensauffälligen Jugendlichen zugetraut werden kann. Eine Schwierigkeit liegt daher in der Frage, anhand welcher Kriterien über Art und Angemessenheit advokatorischer Vertretung zu bestimmen ist und welche 'Ausdrucksweisen' als ernstzunehmender 'Diskursbeitrag' anzuerkennen sind. Die Möglichkeit von gelingender advokatorischer Vertretung ließe sich ohne einen grundsätzlichen Optimismus gänzlich in Frage stellen. Der Versuch von advokatorischer Vertretung in Bezug auf diese Probleme grenzte dann an Zynismus.

In Anbetracht neuerlicher Euthanasiedebatten und medizinisch-technologischen Fortschritts spielt es zum Beispiel eine für die Sonderpädagogik wichtige Rolle, ob das Lebensrecht nicht nur prinzipiell, sondern auch faktisch für alle Menschen sicherbar ist. Das gilt auch in Bezug auf advokatorische Vertretung von Ungeborenen. BURCKHARTs Antwort darauf wäre nämlich nicht, daß im Einzelfall nicht für eine Abtreibung entschieden werden kann. Die advokatorisch Handelnden müssen vielmehr die Verantwortung für ihre wie auch immer ausfallende Entscheidung übernehmen und diese, wenn sie sich im Nachhinein als falsch erweist, als Fehlentscheidung argumentativ begründen und verantworten. "Es gibt," ­ wie ANTOR und BLEIDICK in diesem Zusammenhang bemerken ­ "wie immer die Einzelfallentscheidung ausfällt, das Risiko, schuldig zu werden. Je unsicherer unser Wissen ist, desto mehr wird aus einer verantwortungsethischen, die Folgen abwägenden Entscheidung eine existentielle" (1995, 79). Laut Meinung der Autoren sehen Diskursethiker selber hier die Grenze erreicht, an die jede Philosophie stößt (vgl. ebd.).

Positiv ausgedrückt hilft die Diskursethik, bei sich und anderen ein stetes Infragestellen von gefundenen Lösungen erneut einzuklagen und so jeglichen Dogmen, Schematismen, scheinbaren 'Wahrheiten' entgegenzuwirken. Wenn Menschen in der Diskursethik einen legitimen Maßstab haben ­ und das ist aufgrund der in 3.3 geäußerten Kritik anzweifelbar ­ werden sie nicht nur nicht sicher sein können, welche ihrer Handlungsalternativen diesem Maßstab am ehesten gerecht wird. Ihnen werden auch niemals ihre Handlungen und Handlungsergebnisse transparent sein. Diese Tatsache macht, negativ ausgedrückt, "nur" die moralische Unzulänglichkeit des Menschen bewußt.

Mit den im folgenden wiedergegebenen Argumenten von HELLESNES soll die Diskursethik nicht abschließend widerlegt werden. Sie soll lediglich durch seine ­ wie er meint ­ "epistemologisch neutral[e]" Position relativiert werden (vgl. ebd. 408). Die Diskursethik gibt zwar eine Antwort auf die Frage, ob sich letzte Gründe dafür angeben lassen, warum sich Menschen moralisch verhalten sollten. Nicht aber kann sie auf die Frage nach dem Sinn des Moralischseins "in einer Welt wie der unsrigen" antworten (Hellesnes 1993, 397). Wahrscheinlich beansprucht die Diskursethik nicht für sich, diese letzte Frage zu beantworten. Dennoch soll die Behauptung aufgestellt werden, daß die Anwendbarkeit des Konzepts in der Sonderpädagogik zu einem wesentlichen Anteil von der Beantwortung dieser Frage abhängt. Denn gegenüber Zweifeln an und in sonderpädagogischer Erziehung kann ihre Legitimität nur "diskursethisch" eingeklagt werden, wenn die sich streitenden Parteien den Streit für lohnenswert halten. "Nur ein Mensch, der das Leben nicht als sinnlos erlebt, wäre imstande, die geschichtsbezogene Verantwortungsethik willentlich zu bekräftigen. Ein existentiell Verzweifelter hingegen wäre dazu nicht imstande" (1993, 403). Der "existentielle Optimismus", der nach Hellesnes für eine willentliche Bekräftigung der Diskursethik notwendig ist, kann somit "nicht als die 'normale' oder selbstverständliche Einstellung vorausgesetzt werden" (ebd. 409)82.



Fußnoten:

1 In dieser Arbeit stehen die Begriffe Pädagogik und Sonderpädagogik je nach Kontext sowohl für die Wissenschaft von Erziehung (und Bildung), in der Grundsätze und Theorien zusammengefaßt sind und weiterentwickelt werden, als auch für das Erziehungssystem mit seinen Institutionen und der Praxis. Der Begriff "Sonderpädagogik" steht in dieser Arbeit sowohl für "Sonderschulpädagogik" als auch für außerschulische Bereiche sogenannter "spezieller Erziehung". Auf geschichtlich und territorial unterschiedliche Begriffswahlen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Begriffe wie Heilpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Behindertenpädagogik etc. sind hier also jeweils mitgemeint (Vgl. Speck 1991, 35ff oder Haeberlin 1996, 20-27).

2 Dieses zuletzt genannte Problem stellt sich natürlich nicht für alle sonderpädagogischen Bereiche gleichermaßen. Im folgenden werden besonders die Geistig- und Schwerstbehindertenpädagogik beleuchtet, da dort die für die Betroffenen extremsten und existenziellsten Probleme konvergieren, obwohl auch alle anderen Bereiche jeweils verschiedensten Legitimationsproblemen ausgesetzt sind.

3 An dieser Stelle sei angemerkt, daß in dieser Arbeit grundsätzlich von der Schreibweise mit Großbuchstaben im Wort (zum Beispiel jedeR) als vereinfachte Nennung beider Geschlechter Gebrauch gemacht werden soll. In Fällen, in denen diese Schreibweise nicht möglich ist und die Lesbarkeit aufgrund der Nennung beider Geschlechter erschwert würde, wird nur je ein Geschlecht genannt. Dabei ist das andere Geschlecht jeweils mitgemeint, sofern es sich um generelle Aussagen handelt.

4 Quellenangaben aus diesem Werk werden im folgenden mit dem Kürzel "DDD" angegeben.

5 Eine Ausnahme bildet die Veröffentlichung von BRUMLIK 1992.

6 Vgl. zum Beispiel Antor/Bleidick 1995, 69ff; Gröschke 1993, 113f; Brumlik 1992, 143f; und Haeberlin 1996, 339f

78 Die Marginalität der Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen nach Ende des zweiten Weltkriegs (vgl. Speck 1991, 20f); die Tabuisierung der NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit ­ auch von Medizinern und sogenannten "Heil"-Pädagogen (vgl. Berner 1991, 198-213 und Antor/Bleidick 1995, 36ff) ­ und die ‚Aufbewahrung' von behinderten Menschen in Psychiatrien (vgl. Hähner 1997, 28ff) sind weitere Beispiele dafür.

79 Wie im Abschnitt 2.3.1 und 2.3.2 erläutert erfolgt aus der Diskursethik in diesem Sinne auch eine "Verpflichtung zur Erziehung".

80 Wie im Abschnitt 2.3.1 und 2.3.2 erläutert erfolgt aus der Diskursethik in diesem Sinne auch eine "Verpflichtung zur Erziehung".

81 Das Moment der Anerkennung der Selbstbestimmtheit spielt für Menschen eine existentielle Rolle. Das zeigen zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem vor allem in den letzten Jahren in der Sonderpädagogik stark diskutierten Thema. Vgl. zum Beispiel STOLKs Artikel "Geistigbehinderte mit dem Verlangen auch jemand zu sein" (1990) und LINDMEYERs "kritische Bestandsaufnahme" (1999).

82 STOLKs Artikel "Geistigbehinderte mit dem Verlangen auch jemand zu sein" (1990) und LINDMEYERs "kritische Bestandsaufnahme" (1999).



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URL:http://www.gata-verlag.de/prob81.htm; Stand: 05.06.2002 

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